Lametta statt Opium fürs Volk

Zu Neumond haben die Götzenbilder Ausgang

Am Freitag morgen ist kaum mehr ein Durchkommen in der Fußgängerstraße um den Tempel. Das  Ordnungsamt hat gelbe Kordeln gespannt, um die Menschenströme zum Meer und zurück zum Haupttor zu leiten. Wohl 100 Tausend Pilger sind über Nacht angekommen, um den Neumond zu feiern, schätzt der Geschäftsmann im gebügelten weißem Hemd. Er hat sich in dem etwas abseits gelegenen Lokal an einern der drei mit Wachstuch bedeckten Tische zu mir gesetzt. Die stockfleckig türkise Kaschemme ist nur morgens geöffnet und dann immer voll, die Frauen hier machen das beste Sambar (Linsensauce) zum  gedämpften Idli. Der Mann betreibt ein Fischerei-Unternehmen mit mehreren Kuttern, sein Bruder arbeitet in Osnabrück als „Professor“. Heute abend soll ich mich im Tempel irgendwo hinsetzen und meditieren, dann würde ich spüren, wie die kosmische Energie Shivas herabflutet, quasi als pfingstliche Ausschüttunh des heiligen Geistes, was einen erfüllt mit Freude, Stärke und Zuversicht für ein neues Jahr. Dann wünscht er mir Glück und fragt, ob er mein Frühstück bezahlen darf. Am Fischerhafen steht ein weißer Ochse an den Zapfsäulen einer Tankstelle. Sein einachsiger Karren ist mit einem  Dutzend großer Plastikkanister beladen, der Ochsenführer befüllt sie mit Diesel für die Motoren der grünen Schiffe, die ein Stück weit draußen im Meer ankern. Am Kai verladen Fischereiarbeiter mit Körpern wie junge bodybuilder und vom Wetter verwitterten Gesichtern die Kanister und Ölfässer auf kleine Boote, die sie dann hinais zu den großen hochseetauglichen Kuttern hinatransportieren. Sind Ochsen wirklich stoisch? An einer Bude mit frisch gepresster Limonensoda und bunten Sirupsäften reicht mir ein ausgedienter Dockarbeiter seine Hand, sie ist schwarz wie Teer und bretthart vor Schwielen. Mit zunehmender Entfernung vom Hafen wird der Müll und das Strandgut aus Plastikseilen und bröseligen Styroporbrocken weniger, die Gischt weißer, die Hunde wilder. Fischer entwirren zusammen ihre Netze, pflücken handtellerkleine Fische heraus, die Handgriffe der Teamarbeit sind eingespielt, Frauen sind eingebunden, Schattendächer aus Plastikplanen, einstige Wahlplakate mit siegesgewissen Politikergesichtern knattern nun pastellfarben verblichen im Wind als tröstlicher Beweis ihrer Vergänglichkeit, zerfranst und zerzaust wie die Hütten aus Bambus und Palmblattgeflecht, geduckt unter windgebeugten Bäumen, in Dornengestrüpp geschmiegt. Eine junge Familie lädt mich ein, mit in ihrem Schattenplatz zu sitzen, einer mit wilden Locken winkt zu seiner Behausung, um Reis mit zu essen, ein im Sand lagernder Fischer mit Piratenturban bietet mir Wasser an, eine Männerrunde ihren Brandy. Alle blicken souverän, alle sind irre schön. Das Meer ist lauwarm, riesige weiße Muscheln mit Zacken und pinken Spiralmustern blitzen wie Messer in der gleissenden Hitze, im Flirren der Luft taucht Sri Lanka auf, das Ende der indischen Welt ist nah, woran merkt man einen Sonnenstich? Entlang der äußeren Tempelmauern lagern so viele Bettler, Bedürftige und Gebrechliche, dass man nicht weiß, wo anfangen und wem man was spenden soll. Es soll spezielle Geldwechsler geben, die unsereinem dafür größere Rupienscheine in viele kleine und Münzen tauschen – Centbeträge, Pfennige –  abends tauschen sie den Bettlern die gesammelten Münzen und kleinen Scheine in größere zurück. Die Körper sind blank, jeder zeigt seine Wunden, jede Versehrtheit zählt, jede Deformation ein Plus, abgeknickte Knochen, amputierte Gliedmaßen, verstümmelte Beine, verlorene Finger, verkrüppelte Füße, geschwollene Gelenke, fehlende Hände, verdrehte Hälse, schiefe Wirbelsäulen, Armstümpfe, Klumpfüße, O-Beine, Knubbelknie, Leprastummel, verwachsene Klauen, skelettierte Brustkörbe, geblähte Bäuche, halbe Köpfe, löchrige Gesichter, Geschwüre, Auswucherungen, Krücken, archaische Prothesen, das ganze Pandämonium an Lahmen, Hinkenden, Beinlosen auf Rollbettern, daneben die wie angewachsen im Grind auf ihrem Fleck Kauernden, zusammen gefaltet, im Schneidersitz, auf nichts mehr wartend, gleichmütig starren sie ins flirrende Nichts über ihrem Blechteller mit Münzen einer längst veralteten Währung, gleichmütig stecken sie den 10-Rupien Schein weg, halbnackte Silberbärte, in schmuddelige Lumpen gehüllt, mit Ketten behängt, Metallringen an den Händen, viele im Orange der Sannyasin, der Bedürfnislosen, dem Safran der Swamis, die über alle materiellen Besitztümer erhaben sind, sich von Spirit und Spenden ernähren, Wasser gibt es aus städtischen Containern, das Bad ist das Meer, das Bett ein Tuch, ein Stück Papier auf dem Steinboden, keiner riecht, niemand stinkt, ein paar zahnlose Alte und der Welt entglittene, abgemagerte Frauen, betteln mit ausgestreckter Hand, aufdringlich ist niemand. Einer poliert mit einer Zahnbürste seine Halskette aus dicken Holzkugeln, manche lesen Zeitung. Die meisten sind gar keine spirituell Erleuchteten, sondern normale Bettler, Kostüm-Swamis sozusagen, die rauchen, kiffen und trinken, sagt Hari. Der Elektriker hockt in seinem nach vorne offenen Kabuff voller bis zur Decke aufgetürmter, verstaubter  Röhrenfernseher, wenn ich beim Stand daneben Tee trinke, überlässt Hari mir seinen Hocker. Er hat ein paar Jahre in Dubai gearbeitet, am Flughafen, kennt alle Airlines. Ein klappriger Alter breitet Wurzeln, getrocknete Kräuterbündel und gruselige schwarze Fetischfiguren auf einer Decke aus, sein ölig grünlicher Sud heilt alle Leiden. Bei einem nie fertig gestellten oder schon wieder verfallenden Freizeitpark am Ende des Uferwegs grasen Ziegen, freie Pferde stehen zwischen Kinderrutsche, Fitnessgeräten und Betonbänken, in einer Nische aus Steinhaufen bäckt ein Einsiedler kleine Teigfladen auf einem improvisierten Herdfeuerchen. Bei einem Altar im Unrat am Meer liegen Blumen und Bananen, Reste einer Pooja-Zeremonie, gerade noch  Symbole, jetzt Abfall. Ein Stück weiter stehen ein Paar Schlappen ordentlich abgestellt, ein Hemd, ein orangenes Tuch gefaltet auf dem Boden, eine doppelt geschliffene Brille liegt am Rand der Strandpromenade. Wem gehört sie? Hat einer alles gesehen? Ist er ans Ende seines Weges gekommen, hat er bessere Schlappen gefunden? Hat der verfilzte Eremit vom Spielplatz nicht so ein kariertes Hemd getragen? Bei den Toren zur rituellen Badestelle der Pilger schaut ein Swami mit weißem Zauselbart umd glänzenden Augen stechend in und durch mich hindurch, ein anderer in orangenen Lappen trägt einen Plastikbeutelverband um die Hand und einen Rucksack mit der Aufschrift Walk in Style, im Wasser schamponieren sich Frauen die Haare, ein fahlgelber Hund umkreist einen anderen, der reglos im Sand liegt, leckt dessen Schnauze bis der ein Lebenszeichen von sich gibt, dann rollt er sich neben ihm zusammen. Eine Gruppe älterer Frauen in Baumwollsaris geht bis zu den Füßen ins Meer und posiert für Fotos, die sie zuhause vorzeigen können. Eine Alte davon fordert mich auf, selber ins Wasser zu gehen. Als mir die vermüllte Brühe um die Knöchel schwappt, sehe ich, nicht nur die Essensreste, welken Blumengirlanden, Plastiktüten, die Kuhfladen, Hundehaufen, unsere Exkremente verdrecken hier das Meer, es sind die ganzen Sünden, die hier abgewaschen wurden. Na dann! Mit beiden Händen schütte ich mir Wasser ins Gesicht, da ist meine Schuld, und nochmal ein Schwall über dem Kopf, nimm meinen blöden Egoismus, meine Herzlosigkeit, meine Dummheit, und noch mal eine Ladung für meinen Kleingeist, Überheblichkeit, Gleichgültigkeit, Gedankenlosigkeit, für all die Kränkungen und Verletzungen, die ich anderen zugefügt habe. Und wie ich triefend in den Horizont blinzle, ist der Himmel heller, die Luft leichter. Da gehe ich doch gleich noch in den Tempel zu einer abendlichen Runde. An 22 Brunnen stehen Priester und begiessen die Gläubigen aus Blecheimern, die sie an Seilen in den Brunnen lassen, die heiligen Bademeister leiern Mantras, die Pilger sind klatschnass, sie kreischen, juchzen, lachen, eine Geräuschkulisse wie im Freibad, von andächtiger Stille keine Spur, Erfrischung ist auch eine Art Erlösung. Draußen werden Götzenfiguren unter lautem Brimborium in einer Prozession herumgetragen, weniger Opium denn Lametta fürs Volk, junge Kerle bieten Farbpuder feil, den sie zu perfekten Zuckerhüten aufegäuft haben, jeder ein Anish Kapoor für Arme. ruhe kehrt nur im Zwielicht des Allerheiligsten ein, wo dee Lingam unter Blumen, Düften, Rauch und Tüchern gänzlich unsichtbaren ist, wo die Opfergedecke und Geldspenden dargebracht und vom Bramahnenpriester gegen Segnungen und Farbpulver eingetauscht werden, erst da, im stickigen Halbdunkel der Öllämpchen erstirbt auch das fröhliche Geschnatter für eine Sekunde Ewigkeit. Für Nichthindus ist dieser Zone eigentlich tabu, die Luft zu schwer, der Tempelelefant tritt in ohnmächtigem Delir auf der Stelle, in der Nische eines Schreins für einen rußschwarzen Ganesha huscht ein Weiblein mit funkelnden Augen aus dem Dunkel, ihr Sari aus dem grünblaukarierten Tuch der Armut, tuschelnd rezitiert sie ein einen Vers, scannt mit hastigem Blick die Umgebung, besprenkelt ein Grüppchen überraschter Pilger mit Wassertropfen, betupft ihre Stirnen mit Farbe, jetzt bin ich fällig, keine Ausflüchte, entschieden drückt sie ihre Hand auf meinen gesenkten Kopf, streicht zwei breite weiße Streifen wie einen Kometenschweif quer über meine Stirn, schmiert einen fetten roten Punkt zwischen meine Augen, sie hustet, ich auch, sie streicht eine Handvoll Weiss meinen Hals herunter. wir husten uns herzlich zu, tauschen ein winziges  Erkennunsgrinsen und schon ist sie wieder im Dunkel verschwunden. Klar, Frauen sind niemals dazu legitimiert, solch priesterlichen Rituale, gar im Tempel auszuüben, das dürfen nur auserwählte Brahmanen, die mit der weißen Schnur diagonal über dem nackten Oberkörper. Frauen dürfen den Mönchen und Priesteranwärtern im Tempel das Essen bringen, Wassereimer, Backsteine für einen temporären Opferfeueraltar herumtragen, immerdar den Boden fegen, und manchmal darf eine die eiserne Glocke läuten. Mit der Abenddämmerung senkt sich die Hitze, die Gnade des Lichts scheint aus den Dingen der Welt selbst zu leuchten. Eine Frau in Hellblau giesst Pflanzen in einen Blumenkübel vor ihrem hellblauen Haus, eine Kuh leckt dem Kalb die Fliegen vom Hals. Am nächsten Morgen reise ich weiter nach Kumbakonam.

Der schönste der Fischer heißt Krishna
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Sonntag ist kein guter Tag für Ziegen

Wie wenig ist genug?

Ein braunes Zicklein meckert in den Sonntagmorgen. Es trippelt um den Pfosten, an den es festgebunden ist. Seine Mutter hängt kopflos an einem Bein von einem Ast daneben. Ihr schwarz gelocktes Fell liegt wie ein abgetragener Pullover im Dreck. Ein junger Schlachter säbelt mit einem langen Messer fachmännisch den gehäuteten und geschächteten Körper in saubere Stücke. Auf einem niederen Podest aus Beton daneben sitzen mehrer Männer unter einer provisorisch zwischen vier Stöcke gespannten Plane. Einer wirft die Fleischstücke in eine Plastikwanne mit Wasser, ein anderer hockt an einem Holzklotz und trennt Sehnen und weißes Bindegewebe aus den roten Fleischstücken, der nächste hackt Rippen, Knochen und das Rückgrat klein, ein anderer füllt sie in handliche Portionen in Plastiktüten, die sofort in den Händen und Einkaufstaschen der wartenden Käufer landen. Nichts bleibt übrig, in wenigen Stunden ist von der Instant-Metzgerei nichts mehr zu sehen, noch nicht mal Fliegen sind da. Ein Stück weiter haben Polizisten die Straße abgesperrt für eine Wahlkampfveranstaltung. Rotschwarze Flaggen der in Tamil Nadu populären ADMK Partei, Lautsprecher, weiße Plastikstühle für Menschenmassen, die Uniformierten in braunem Khaki sind freundlich und entspannt, das Busticket zum Tempel, sonst 8 Cent, heute gratis, Stimmenfang. Auf dem Weg zu Fuß entlang der staubigen Piste lädt ein garagenartiger Wellblechverschlag mit Brettern für Tisch und Bank zum Frühstücken ein, zwei gestandene Männer kochen auf mit Gasflaschen betriebenen Feuern Milch und Tee, in einem großen Spezialtopf dämpfen Idlis, Reismehlküchlein, zu denen es scharfe Chutneys gibt, dazu Trinkwasser in blitzenden Alubechern aus einer blauen Plastiktonne. Eine Kuh frisst die abgegessenen Bananenblattteller. Die Hütten am Straßenrand wechseln zu festeren Behausungen, bei einem Tempelteich beginnt die Stadt, um einen Platz mit Sitzbänken aus poliertem Stein stehen bunte Buden, Zeit für eine frischgepresste Limonenselters mit Salz. Die vier Straßen um die quadratische Tempelanlage im Zentrum sind Fußgängerzonen, gesäumt von Restaurants, Snackbuden, Läden und Unterkünften für die Pilgermassen, einige davon vermieten nicht an Alleinreisende, in der Palani Lodge an der Ecke zur autofreien South Car Street gegenüber vom Tempel verdöst der freundliche Manager die Mittagshitze in den Kunstledersofas der Rezeption, auf einen Wink von ihm zeigt ein junger König – my name is Raja – mir ein schönes Zimmer für die kommenden Tage. Die nach Möglichkeit zu vermeidende Internet-Buchungsagentur versagt an Orten wie hier, fürs völlige Spontireisen bin ich zu alt, ich brauche eine Reservierung für die erste Nacht in einer neuen Stadt, umziehn geht dann immer. Mit seinem ruppigen Charme hat der Manager vom Hotel Temple View in Madurai mir eine Fahrt mit dem privaten Kleinbusunternnehmen nach Rameswaran verkauft, etwas teurer als der staatliche Bus, dafür mit Abholung um früh um Sieben vom Hotel. Die Mitreisenden sind indische Tagestouristen auf Pilgertour, und weil sie etwas mehr bezahlt haben, fühlen sie sich als was Besseres. Gemäß der indischen Kastenkonditionierung gilt offenbar, je besser gestellt, desto unfreundlicher. Eine Matrone will mich von meinem Fensterplatz verscheuchen, damit sie neben ihrem Alten sitzen kann. Ich bleibe stur, sie foltert mich darauf stundenlang mit Predigt-Geplärre aus ihrem Handy, das sie direkt vor mein Ohr hält. Beim Pausenstop an einem Restaurant im wüstenblankem Nirgendwo kassiert der Busfahrer einen Extra-Service-Charge und Eintritt (!) für unseren Zielort. Im heißen Staubwind der Ausfallstrasse in Nähe des Busbahnhofs lässt er mich vor meinem leider auch „besseren“ Hotel aussteigen. Die Fassade Glas und Betondekor, zwei bildhübsche Boys an der Rezeption, mit Lesen und Rechnen heillos überfordert, braucht man für handygucken nicht, machen das Manko aber mit umwerfendem Lächeln wett. Mein Zimmer im Erdgeschoss hat Klimaanlage und schwarzen Schimmel, das Fenster geht auf die knapp einen Meter entferne Baustelle eines weiteren Hotels, auch zur anderen Seite wird gehämmert und gefräst, selbst mein Hotel besteht hinter der drei Stockwerke simulierenden Fassade nur aus dem Erdgeschoss und einem Rohbau, an der vierspurigen Ausfallstraße, die Rameswaran über eine lange Brücke mit dem Festland verbindet, entstehen zahllose weitere Hotels mit protzigen Foyers voller Spiegel und Gipssäulen und Angeberfassadem mit Namen wie Grand, Eilite, Palace oder Queen. Indien boomt, wild, strukturfrei, planlos oder mafiös, Baustellen, Bauruinen, Straßen. Fast alle Überlandstraßen, über die ich bisher mit den klapprigen, rasend und hupenden Bussen der staatlichen Transportgesellschaften gefahren bin, werden gerade von zwei auf vier auf sechs Spuren verbreitert, zu neuen Trassen umgeleitet, am Straßenrand kleinerer Ortschaften Reste von Häusern, zur Hälfte abgerissen, das Innerere entblößt, Ladenfronten nach vorne weg, dahinter leben Bewohner weiter, ohne Kanalisation, mit neuen improvisierten Verkausständen, Haltestellen, Gehwegen im Schutt, Staub und Sand. Von meinem Hotel sind es knapp 2km zum Zentrum, zum riesigen 1000 Jahre alten Tempel und zum Meer, wo die Pilger ein rituelles Bad nehmen, um sich für die Zeremonie im Tempel von allen Sünden rein zu waschen. Der Strand mit der Meeresbrise, wo unsereins die schicken Resorts und Hotelanlagen vermuten würde, ist der Ort für den Müll, in dem die schwarzen Schweine, gelben Hunde und heiligen Kühe wühlen und die Armen kacken. Die Häuser und Hotels richten ihrer Gesichter und Fassaden, faces, ringsum auf den zentralen Tempel, ihre Rückseiten weisen zum Meer, wie Hintern zur Kloake, faeces. Zugleich stehen dort am Strand und im seichten Wasser Altäre, steinerne Lingams, an denen orangefarbe gekleideten Swamis meditieten, die Pilgertouristen bringen ihre Opfer am Meer, werfen Blumen, Teller und Gedecke mit Reis, Bananen und Kokosnüssen ins Wasser, ganze Einkaufstaschen voller Tücher, Hemden, Saris, landen nach dem Nassspritzen und Untertauchen in den Brandung. Putzkolonnen und städtische Müllfrauen, es sind immer Frauen, sammeln die angespülten nassen Lumpen wieder ein, in nahen Brachen liegen sie zum Trocken aus. Die Treppen der Badestelle, die Ghats unter drei roten Torrahmunen werden blitzsauber gehalten, Männer spülen mit Eimern voll Meerwasser die Uberreste der Poojas, Asche, Reisknödel, Blütenblätter, Kuhfladen, Essensreste ins Meer. Aufseher kassieren bei den zu mietenden Priestern die Einnahmen, notieren sie penibel in ein Büchlein, auf zwei Tafeln hängt die Preisliste für die angebotenen Dienste und Zeremonien aus, der Segen für die im letzten Jahr verstorbene Mutter, die Bitte um Heilung, um Gesundheit, Geld, Kinder, Erlösung alles hat seinen festen Preis.  Am neuen Tempel stadtauswärts verkauft ein dürrer alten Mann an seinem einachsigen Holzkarren dunkle Brühe, so scharf, dass man sonst kaum etwas herausschmeckt, am Boden der Tasse schwimmt ein Knöchlein, es ist von einer Ziege.

Je 205 m lang sind die vier Seiten des Wandelsgangs um die 22 Brunnen, Altäre und den Lingam-Schrein im Tempel Rameswaram
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Wasser und Tee

Er füllt meine Plastikflasche mit Trinkwasser, dann lädt er mich zu einem Glas süßen Milchtee ein.

Die Türen des Zugs bleiben über Nacht offen, sechs Pritschen pro Abteil, zwei längs am Gang, alle belegt, Frauen und Männer, alle sind leise, in dünne Tücher gewickelt, Waschbecken und Klos sauber, Schwellenrattern wiie aus alten Erinnerungen. Im Morgengrauen zieht eine riesige Müllhalde vorbei, kilometerweit niedrige Rauchschwaden, kokelndes Plastik, an Bahnschranken warten Frauen und Männer, zu Fuß, auf Fahrrädern, in vollen Bussen, so früh auf ihren Wegen zur Arbeit. Panali, Dindigul Junction, ein Teeverkäufer reicht Papierbecher durchs Fenster, keine nennenswerten Industrien, Recycling oder sonstige Verwertung, nur Vergiftung, blassegelbe Morgensonne über Reisfeldern. Ein paar Stunden später erreicht der Zug nach 13 stündiger Fahrt pünktlich Madurai. In der Jahrtausendealten Tempelstadt kann man Trinkwasser an eisernen Pumpen zapfen. Vor den Hauseingängen malen Frauen Ornamente auf dem Boden, die Kolam genannten Mandalas werden traditionell mit Reismehl gezeichnet, inzwischen auch mit Kalk und Farbpulver, ephemere Zeichen an der Schwelle, Übergang zwischen öffentlichem und privaten Raum, Schutz und Einladung, Geheimnis und Schmuck. (Feeding a Thousand Souls… ) Trotz der bald 35 Grad fühle ich mich hier besser, ja, ermutigt, obgleich ich noch nicht mal den zentralen Tempelkomplex der fischäugigen Göttin Meenakshi umrundet hab, im Uhrzeigersinn, so soll die kosmische Energie Shivas in einem aufgeladen werden, aufgezogen wie die Feder eines Weckers. Aber ohnehin ist der Stadtplan des Quartiers um den Tempelbezirk selbst als ein Mandala angelegt, so ist man an jedem Ort direkt mit dem Kosmos verbunden. Es ist lauter, dreckiger, chaotischer hier, wilder und wüster, doch die Luft ist leichter. Die engen Gassen bieten Schatten, Treppen und steinerne Absätze zum hinhocken, es gibt Ingwertee, an allen Ecken Strassenküchen mit heißem Gebäck, offener Freundlichkeit, die einem entgegenstrahlt. Dabei ist der Ton rüder, der nette Hotelmanager hört sich an, als belle er nur Befehle, nichts mehr vom süßen Charme der Leute von Kerala, wobei ich da auch nur denen begegnet bin, die einem was verkaufen, hier scheint das egal zu sein. Frauen sind laut, sie zetern, schimpfen, kreischen, gackern, palavern, wie Marktweiber eben, auf der Straße sehe ja auch fast nur solche, die gehobenere Klasse geht nicht zu Fuß noch in die Tempel und zum Markt schickt sie die Bediensteten. Ein unfassbares Getöse des Lebens reisst mich mit, der Strom saugt mich auf, spült mich an den Rand wie Strandgut, das noch nicht zum untergehen bereit ist, sitz ich dann da, halte mich an mir selber oder einem Teeglas fest, gucke sprachlos dem Wunder zu, treibe, gehe weiter, jedes Ziel vergessen, überall ist es gut, leichte Beute für alle anderen Herumirrenden, der Müllsammler führt vor, wie er aus den Plastikbändern von Kartonvwepackungen Türvorhänge flechtet, zieht mich in einen eigentlich geschlossenen Tempel, die Priester halten Mittagspause, winken ab und uns durch, er erzählt zu allen Gottheiten Geschichten, versteh kein Wort von seiner Sprache, er drückt mir rote und gelbe Zeichen auf die Stirn, wieso verstehen, Logik ist auch nur ein Konzept, ein Mann verkauft Koriander, nur Koriander, ein anderer nur Zwiebeln, eine Alte kauert auf dem Boden über einem Haufen Knoblauch, als ich nach einer Knolle frage, verscheucht sie mich, einer hat ein Megaphon mit Dauerschleife seines Warenanpreisung vom Band (vom Telefon) auf seinen Karren gelegt und geht in der Bude dahinter Frühstücken, eine Frau sitzt auf den Stufen vor ihrem Hauseingang und liest Zeitung, der hübsche Bügler an seinem Karren findet meine Bluse krumpelig und bietet mir seine Dienste gratis an, sein Bügeleisen ist mit Kohlen beheizt, der Zahnloseste gibt mir einen Tee aus, es gibt nichts zu beweisen, ich habe nichts mehr zu sagen, das Türkis einer Fassade überwältigt mich völlig, ich sinke auf den Stufen von anderer Leute Heimstätten nieder, ein Moped mit Schlagermusik fährt vorüber. Im Palastmuseum verstauben Skulpturen aus 1000 Jahren. Ein Kind quält eine Taube, sein Vater filmt es dabei.

Getöse des Lebens, Freitag Abend in Madurai,
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Wir da vorne

Prozession mit Trommeln und Tröten hinter einem geschmückten und Lichterblinkenden Wagen durch die Gassen, Vollmond

Wir haben den Blick aufs Meer. Eine steile Treppe mit 150 Stufen führt auf einen makellosen Strand hinab. Ein Bediensteter bewässert am Abend den schmalen Garten zum Kliff, in Pavillons mit Palmblattdächern kann man Yoga machen oder auf weißbezogenen Liegen ein Buch von Frisch, Handke, Boyle oder Wolfe aus der Bibliothek der zurückgelassen Romane lesen. Das ganze Südkliff von Varkala ist mit weißen Hotels und Gasthäusern bestanden, im Pura Vida nebenan gibts einen Infinity-Pool und ein Terrassen-Restaurant. Zur Gasse nach hinten sind hohe Mauern und Tore, die von Wachleuten geschützt werden. Die gegenüberliegende Seite säumen niedrige Katen, die Behausungen bestehen aus einem einzigen Zimmer, in das ein Bett passt, ein Stuhl, ein Fernseher und ein Regalbrett für die Töpfe und Habseligkeiten der Bewohner, die Alten sitzen davor mit einer Schüssel Zwiebeln oder einem Kleinkind auf dem Schoß. Sie grüßen freundlich zurück. Zwischen Armut und Reichtum passt gerade ein Kleinwagen durch. Das Südkliff ist die bessere und ruhigere Seite, am Nordkliff sammeln sich die Unterkünfte für die sogenannten Backpacker, den Pfad an der Kante zum Meer hinab säumen Bars, Cafes, Pizzerias und Restaurants und Läden mit Seidenschals, Kasmirhandwerk, Klangschalen, Heilsteinen und allem, was Urlauber so Indien mitbrinhen. Die Backpacker sind in der Mehrheit eher grauhharige Althippies und gutsituierte Rentnerinnen zu sein, an der Beach Street dazwischen trifft man sich in Bennys Cafe, wo es Joghurtmüslis, Toast mit Orangenmarmelade und weichgekochte Eier und Eiscafe gibt. Der 75-jährige Steven aus Philadelphia akklimatisiert sich hier ein paar Tage vor dem Weg in ein Ashram in den Bergen, die silberhaarige Britin hat dieses Mal nur fünf Wochen Zeit, ihr Enkelkind hat nämlich Geburtstag. Die Osteopathin aus München war gerade bei der Amma, jene Welten umarmende Erleuchtete, ihr Guru und sie wirkt noch ganz high davon, der östereichische Frühpensionär holt sich eine Woche lang morgens beim Ayurveda-Masseur sein „Pandschkarma“, das sei aber eine ganz unposhe indische Bude, erklärt er germ, aber die vielen indischen Touristen neuerdings findet er nicht mehr schön. Früher war nämlich auch hier alles besser. Nur das junge Pärchen aus Bangalore, beide in der IT-Branche tätig, findet gut, dass sich hier so viel entwickelt. Ihnen gehört die Zukunft, das von unsereins so geschätzte pittoresk archaische Indien interessiert sie nicht. Eine zierliche Dame geniesst ihren Pfannkuchen mit Limonenbutter, ich freue mich über den Siebträger-Espresso und lasse mir in der Travelagency nebenan ein Ticket für den Nachtzug nach Madurai besorgen.

Kilometerweit zieht sich der Strand, Moscheen wie aus Zucker blitzen aus den Palmenhainen, Fischer kämpfen ums Überleben und finden wenig Gefallen an der Invasion halbnackter Touristinnen

Aus den roten Kliffs von Varkala rinnt süßes Wasser aus heiligen Quellen. Auch in unserem Guesthouse wird Trinkwasser mit einem Eimer aus einem tiefen Brunnen geschöpft. Ungerührt von den westlichen Touristen, die in der Gluthitze im Bikini im Sand liegen oder joggen, verrichten Hindus wie schon seit Jahrhunderten an diesem Strand ihre Rituale. 2000 Jahre alt sind die Säulen, Mauern und Steinskulpturen des Jenardhanan Swamy Tempels auf einem kleinen Hügel unweit des Meeres, seine Geschichte hat sich im der Russ von Milliarden Öllämpchen in seine Nischen und Falten eingeschrieben, lesen kann ich sie nicht. Papanasam, Sündenvernichter, heißt der hiesige Strand auf Malayalam, auch das Wasser der Quellen soll von Sünden reinwaschen. Hierher bringen die Gläubigen die Asche ihrer Verstorbenen, um sie dem heiligen Wasser zu übergeben. Zuvor lassen sie ihre Toten in tönernen, mameladenglasgroßen Gefäßen im steinalten Tempel, einer hölzernen Dependance am Ende der Beach Street oder auch von mobilen Mietpriestern unter Sonnenschirm direkt auf dem Strand aussegnen. In lapidar vollzogenen Zeremonien, im Tempel auch gleich im Mehrfachpack, werden Blumengirlanden, Blütenblätter, Rauch, Düfte und Öl über die Urnen geschwenkt und gesprenkelt, der Priester leiert routiniert ein paar Mantras oder formalisierte Gebete herunter, und auf gehts zum Meer. Die Männer haben sich dazu weiße Tücher um die Hüften gewickelt, die verkaufen fliegende Händler direkt vor Ort. Es muss ein Mann, Sohn oder sonst ein männlicher Verwandter die mit Blumen geschmückte und in ein Bananenblat und ein rotes Tuch eingeschlagen Urne tragen, Witwen, Töchter, alle Frauen stehn und folgen in zweiter Reihe dahinter. Der Mann trägt die Urne über seinem Kopf zum Meer und in der seichten Brandung wirft er sie rücklings überkopf ins Wasser. Nach wenigen Minuten ist das Ganze vorbei und erledigt. Am frühem Morgen finden die meisten dieser See-Bestattungen statt, Girlanden aus Tagetes, Rosen und Tonscherben spült die Flut wieder an. Sie säumen den Wellenrand bis zur nächsten Flut. Das Meer ist gleichgültig, es verschlingt die Asche der Toten wie die Kacke der Fischer, wohl auch unsere und allen Müll. Es wird nicht geweint und nicht geklagt. Die Toten sind tot, ihre Individualität längst in Rauch aufgegangen, ihre Persönlichkeiten, ihre Geschichten vergangen. Keine Ansprachen, kein Lied wird gesungen. Der Einzelne ist im großen Ganzen aufgehoben. Im Sand steht plötzlich sein Name. Wo kommt der jetzt her? Wie in einer großen Welle zieht es mir den Boden unter den Füßen weg. 

Religionsbusiness am heiligen Strand von Varkala
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Schatten zu vermieten

Wo die Seeadler kreisen und Rudel wilder Hunde herumstreunen sind die Fischer mit ihrer mageren Beute vom Meer zurückgekehrt. Handgroß nur sind die Fische und klein die Garnelen in ihren Netzen. Sie fahren zu sechst oder mehr mit hölzeren Booten und Außenbordmotoren hinaus, drahtige junge Männer stürzen sich allein mit Netzbündel und einem Paddel auf matratzengroßen Flößen aus Styropor, das in schwarzem Plastikplanen eingenäht ist, durch die Brandungsflut ins Weite. Die Wellen sind kräftig und tückisch, das schäumende Wasser lauwarm. Ein mannsgroßer Delphin liegt gestrandet im weißen Sand, ein Dutzend Polizisten sperrt den Fundort mit einem gelben Band mit „Crime Scene“-Aufdruck ab, einer schlitzt mit blitzendem Messer den Korpus auf, eine junge Frau macht Notizen und vestaut die Proben in einem Köfferchen. Am Wellenrand pesen handtellergroße, sandfarbene Krebse entlang, wenn ein Raubvogel seinen Schatten über sie zieht, verschwinden rasant sie in Löchern, um die der Sand wie um kleine Maulwurfshaufen aufgeworfen ist. Männer von den im Grünbewuchs verborgenen Häusern laufen in gerader Linie über den blanken Sandstrand zum Meersaum, heben den Dhoti an und kacken. Ein weißes Kreuz am Rand zum Sand verweist auf eine dorfähnliche Ansammlung von Hütten, eine Stichstraße, zum seltenen Glück steht ein Teewalla dort. Ein paar Kilometer nördlich, leicht mit dem lokalen Bus zu erreichen, (wenn es einem jemand sagt und zeigt), steht eine richtige Budenzeile mit Tischen und Stühlen, Speisekarten und Service. Marari Beach ist ein Touristentraum, die Einheimischen stellen das Personal, städtische Putzkolonnen sammeln täglich den Müll auf, Frauen vermieten Sonnenschirme mit Liege oder verwittertem Plastikstuhl. Schatten für 100 Rupien die Stunde. An der Strandbar dahinter gibts den schattigen Sitzplatz bei einem kalten Glas frisch gepresstes Limonen-Soda schon für die Hälfte. Lemonsoda mit Salz statt Zucker ist mein aktuelles Lebenselixier an der Bude, wo ich seit Tagen Milchtee und Samosa frühstücke und selbstverständlich immer einen der drei Stühle angeboten bekomme. Neben Sitzen und Schattensuchen sind Essen und Trinken meine Hauptbeschäftigungen hier. Das Eigentliche, die Essenz, das Existentielle, alles ist Körper. Was gibt es wo und wann und wie heißt was überhaupt? Eine Teebude am Wegesrand lasse ich niemals aus. Antony, der sein Homestay vom letzten Jahr zugemacht mir aber eine andere gute Unterkunft mit Balkon auf die Backwaters besorgt hat, betreibt sein Paradise Cafe am Kanal, dort macht Jo den stärksten Kaffee cortado, ohne den ein Tag schlechter begänne. Direkt gegenüber ist die Refill-Station, an der man an einem Hahn seine Behälter mit Trinkwasser auffüllen kann, das Geld, 1 Rupie pro Liter, wirft man, so vorhanden, in eine blauen Eimer, der da hängt. Über die Kanalbrücke für Fußgänger hinüber am Fähranleger kauert der alte Mann unter einem Regenschirm an seiner Karre. Dort röstet er Erdnüsse und verkauft die handvoll in Dreieckstütchen aus Zeitungspapier, 10 Rupien, meine obligatorische Notration, ebenso kleine Bananen und grüne Trauben. Bei Einbruch der Dämmerung, wenn die Krähen und die Kormorane ihre Schlafbäume beziehen, eröffnen die Strassenküchen gegenüber vom Busbahnhof ihre Verschläge. Bläuliche Gasflaschenflammen heizen die Platten, auf denen Dosa und Omletts mit kleingehackten Zwiebeln frisch gebacken werden. In zischenden Dampfkochtöpfen gart scharfer Fleischchurryeintopf, daneben brutzeln Parotha, in Kokosöl gerollte und plattgehauene Teigfladen. Zu allem eine Schöpfkelle Currysauce und ein Löffel chillirotes Linsenchutney. Und bisher keine einzige Cola.

Die Fähre durch die Backwaters nach Kottayam braucht knapp drei Stunden, gemächlich mit vielen Anlegestopps tuckert der verwittert hellbaue Kutter duch eine Landschaft aus gespiegeltem Silber, Himmel und Einsamkeit, Kokospalmen und hellgrüne Reisfelder säumen die Ufer, fleischige Wasserlilien wuchern auf den Kanälen, schwarze Kormorane, weiße und anthrazitfarbene Fischreier, die etwas gedrungeneren sandfarben Teichreiher, manchmal ein saphirgrüner huhnähnlicher Vogel, sie schaukeln und räkeln sich auf Inseln aus Treibholz und grünem Wassermoos. In Kottayam schlägt mich eine feuchte Mittagshitze in den Schatten der erstbesten Teebude, wo der Besitzer auch gewürzte Gemüse-Kicherbsen-Küchlein in Fett ausbäckt, von da flüchte ich direkt unter die Ventilatoren eines Hotels, wie hier jene großen, oft weißgekachelten Restaurants genannt werden. Dort komme ich in den Genuss eines „meals“, ein Haufen Reis mit verschiedenen vegetarischen Chutneys und Curry, denn das gibt es immer nur zur Mittagszeit. In einem Metallbecher wird heißes rosafarbenes wasser dazu ausgeschenkt. Mit neuem Mut trotze ich der brutal sengenden Sonne den kurzen Weg an einer Reihe verstaubter Lastwagen entlang zu den Markthallen ab, für die Großhändler ist der Geschäftstag schon fast vorbei, freundlich gelassen stellen sich die meisten für meine Telefonkamera in Positur. Sie sehen wunderschön aus.

(viel fotos auf insta unter docbotsch)

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Alte Orte

Seit130 Jahren gibt es diese Schneiderei in Kochi

Niemand rennt hier. Keiner hat es eilig. Leben sie denn alle achon in der Ewigkeit? Der Mann im Kopierladen wechselt auch noch Bargeld. Sein Sohn studiert in München technischer Ingenieur, inzwischen könne er schon gut Curry zubereiten, damit verdiene er seinen Aufenthalt, manchmal habe er Heimweh. Und man müsse eben jeden Tag von neuem leben. Morgens um Fünf rufen die Muezzine so laut, dass noch die Ungläubigsten aus den Betten fallen. So war das schon immer, hier der Tempel, da die Kirche, dort die Moschee, sagt Joseph, der mitten drin ein Haus hat und Gäste beherbergt. Nur Jew Town ist Geschichte, seit dem die jüdische Gemeinde von Cochin nach 1948 nach Israel ausgewandert ist, die alte Synagoge ein Museum, vor dessen Einlass heute Touristen Schlange stehen. Im Ginger House wird Bier und Wein im kolonialem Style serviert und in einem Antiquitätengeschäft gibt es ein Sortiment englischsprachiger Romane. Den Küstenstreifen zum arabisches Meer hat zu großen Teilen ein Areal der Marine besetzt, ein Stück räudiger Strand hinter einem Wall aus Steinbrocken und Strandgut teilen sich Hunde und ein paar Männer. Sie waten hüfthoch ins Wasser und legen ihre Netze aus, einen Autoreifenschlauch um den Bauch, Krähenschwärme und Seeadler, einzeln klauben sie die Fische aus den eingeholten Netzen, ein Sack liegt über dem halbvollen Eimer. Unter einem dieser riesiegen alten Bäume, auf denen wie zottelige Haarbüschel weitere Pflanzen wachsen, scharen sich Männer in karierten Handtuchröcken um einen rußigen Karren, auf dem es zischt und faucht. In einem Kessel voll siedendem Fett bäckt ein kleiner runder Kerl mit schwarzen Locken Bananen in Teig aus. Während sie vor sich hin brutzeln, schenkt er Milchtee in Gläsern aus. Mit einem Tee und einem heißen Fettküchlein in einem Stück Zeitungspapier darf ich mich zu den Alten auf einen Plastikstuhl setzen. Ich liebe! Alle, jeden, alles. Jetzt hat’s mich erwischt, ich bin angekommen. Zu meinen Füßen liegt eine weiße Katze.

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Außerhalb

Die Kälte klirrt, das Licht ist klar wie Kristall. Am Bahnsteig schon das Gefühl von outspaced. Die Leichtigkeit der Entfremdung, das Bekannte verblasst bereits in der gleissenden Wintersonne, ich bin auf dem Weg, die Verspätung der Züge gehen mich nichts mehr an, das leicht idiotische Glück der Ortlosigkeit schleicht sich an.

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There is no place to fall

Spreeufer am Humboldt-Forum

Vor rund 300 Jahren (1717 und 1732) gab es in Lichtenberg eine Dürre und eine Heuschreckenplage. Davor 1708/09 die Pest. Vom evangelischen Pfarrhaus fällt warmes Licht in den Rest-Park, die immer verschlossen wirkende Kirche wird vom Verkehr umflossen. Hilde hat keine Zähne mehr. Wo aber ist ihr Gebiss geblieben? Wo das ihrer Zimmergenossin, ist im Keller dieses siebenstöckigen Seniorenheimes ein riesiges Lager voller Gebisse, die niemandem mehr passen, ein Zombiearchiv der künstlichen Zähne, wie auf diesem Markt in Bangkok? Zum Abendessen verteilen die Hilfspflegerinnen rosa und weiße Pillen, dazu dunkelroten „Früchtetee“ in Plastikbechern. Den Bettlägerigen stellen sie einen Teller mit Mettwurstbrotschnittchen hin. Um das Wurstbrot für die Zahnlosen einzuweichen, schüttet Schwester Susi aus dem Schnabelbecher etwas orangefarbene Limonade drüber. Könnte man nicht wenigstens warme Brühwürfelbrühe dazu nehmen? Da müsste ich ja noch mal übern Flur laufen, sagt die dicke junge Altenpflegerin und lacht. Wir machen das immer so hier, sie werden sehn, das geht gut. Hilde mümmelt und schluckt brav weg, was ich ihr in den Mund schiebe. Bleib noch. Im Supermarkt weist mich eine Warenberäumerin zurecht, weil ich zur Brötchenentnahme keine Zange benutzt habe. Der blonde Obdachlose mit seinen Siebensachen auf sieben voll gepackten Einkaufswagen, die er zwischen Flaschencontainern und einer stoisch deplatzierten Kunst-am-Bau-Steinskulptur aufgereiht hatte, ist verschwunden. Spurlos, wie alle ordnungsamtlichen Räumungen geschehen. An der nächsten Ecke rauchen Rollstuhlsitzer auf dem Bürgersteig, klares Zeichen einer weiteren Seniorenresidenz, Glasfassade und vergitterte Balkonbänder ringsum zur Ausfallstraße hin. Ein abgerissener Alki bittet höflich um 2,20 Euro, er möchte ein „Röslein“ kaufen und seiner 88-jährigen Mutter nach Spandau bringen. Mit scheppernder Musikanlage, Megaphon und rotem Transparent protestiert eine Kleingruppe gegen die Schließung des Jugendclubs Linse. Auf dem Klapptisch vor ihnen sind mehr Thermoskannen als Leute da sind. Der Graureiher im Park steht wieder am Teichufer. Im Hausflur sitzen zwei Jugendliche auf den Gartenstühlen der Nachbarin und kiffen. Ein paar gelbe Blätter klammern sich noch an die Äste der Linde im Hinterhof.

Der Star und sein Freund, Alexanderplatz

Gelesen: Homeless von Eske Hicken, Westend Verlag 2023, sehr nah dran, an „echten“ Obdachlosen in Portland, wo die Gentrifizierten als nächste dran sein könnten. Orhan Pamuk: Die Nächte der Pest, Hanser 2022, Ernst Paul Dörfler, Nestwärme, was wir von Vögeln lernen können. Hanser 2019…

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Es war einmal ein Frosch

So machen es die Libellen

Was soll ich sagen. Mir fehlen nicht Worte, mir fehlt der Glaube daran. Herbst ist es geworden, es gab einen Sommer. Was mich glücklich gemacht hat, war ein Frosch. Im ersten Corona-Sommer 2020 hatte ich einen Gartenteich angelegt, eine Pfütze eher in Matratzengröße, ursächlich um etwas zu machen gegen die Lähmung. Tagelang Sand und Erde in Eimern ausgehoben, Teichfolie im Baumarkt besorgt, Steine auf Baustellen, Friedhöfen und bei Freunden mitgenommen, Wasserpflanzen gekauft, und wie aus dem Nichts schwammen da plötzlich Teichmolche! Im zweiten Sommer blühten schon die roten Seerosen. Libellen gab es, in türkis, in rot und die großen hellgrün gemusterten, und in diesem Sommer dann der erste Frosch! Grasgrün, daumennagelgroß, schreckhaft, wenn ich ihn einen Tag nicht mehr sah, fürchtete ich, dass die Waschbären ihn gefressen haben, dann waren plötzlich zwei da. Inzwischen zu lange nicht mehr. Ja, der winzige Frosch war der höchste Glücksmoment. Prächtige Blüten, Hornissen in den Pfirsichen, kiloweise Brombeeren vom Brachland in Lichtenberg mit Limonen eingekocht, Krtoegswirtschaft, die Marmeladengläser stehen im Buchregal. In der Zwischenzeit wurde Kleingartenanlage kurz zum „Skandal von Pankow“, die Vorstandsvorsitzende ist mit etwa einer 3/4 Million aus unseren Pachteinnahmen auf und davon, der Grundstücks-Eigentümer erhielt keine Mieten und so hat er uns gekündigt. Jetzt ist ein Insolvenzverwalter eingesetzt, die meisten Gartennachbarn machen weiter, als ob nichts wäre. Ich habe keinen Aprikosenbaum gepflanzt. Bücher, ja, Berichte von frühen Indienreisenden, Naturewriting und Romane über Wölfe, Bären und Spinnen, Pasolini, Handke. Streicht eure Hymnen, vergesst eure Namen. Notizen, Zitate, zu viel Pathos, zu große Worte für den Mikrokosmos meines Alltags, Cappuccino im Pappbecher, Zugfahrten nach Westdeutschland, die Erlebnisse sind übersichtlich. Das Fest der Bedeutungslosigkeit, bestellt und noch nicht abgeholt (Kundera, soll nicht so gut wie der Titel sein).

Bücherberg: Alexandra David-Néel: Mein Indien / Danièle Sallenave: Indien oder Die Verwüstung der Welt / Pasolini: Der Atem Indiens / Amitav Ghosh: In einem anderen Land / Oliver Schulz: Neue Weltmacht Indien / Patrick Deville: Amazonia / Nastassja Martin: An das Wilde glauben / Charlotte McConaghy: Wo die Wölfe sind / Fabre: Spinnen / Handke: Über die Dörfer /

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Hiersein

Bushaltestelle „Hildorado“

Die Luft ist klar, die Nächte kalt. Am Sowjetischen Ehrenmal wächst wilder Portulak in großen Büscheln, die runden Blätter vom Scharbockskraut glänzen, dazwischen rote Taubnesseln, Knoblauchduft vom Wunderlauch weht durch den Treptower Park. Vollmond. Er schafft noch keine Wetterwende, spielt kaum eine Rolle in unserm Bewusstsein hier, Kosmos, wo bist du hin. Wenigstens kann ich im abnehmenden Halbmond getrost den vom schwarzen Pilz bis ins Mark zerstörten Sauerkirschbaum umsägen, die übrig gebliebenen dürren Staudenstengel niedertreten, überm Knie zerbrechen und auf dem Kompost oder dem Zweighaufen entsorgen. Entsorgen, was für ein furchtbares Wort. Der Garten fordert wieder die gesamten ordnungsdeutschen Brutalotätigkeiten ein. Hacken, stutzen, beschneiden. Ausreißen, vernichten, ausmerzen. „Kultivieren“. Immerhin, das Hirn ist derweil ruhig. Bis die Hände wehtun vor Kälte und das Kreuz vom Krümmen, ein paar Stunden „die melancholie- und reflexionsfreie Zone eines unhinterfragten Hierseins“, wie es der schwäbische Landpfarrer auf seinem Blog nennt. Lesen, das Einlassen auf fremde Gedanken und komplexe Geschichten, fällt mir noch schwer. Leichter konsumierbar ist das oberflächliche Geflimmer zufälliger Nachrichten: In Brasilien, wo ein junger britischer Unternehmer für Auslieferdienstler chinesische Elektromotorräder zum Leihkauf anbieten will, sollen 85 % der elektrischen Energie, meist hydrogen, aus erneuerbaren Ressourcen stammen. In Europa gerade mal 20%. E-Mopeds für alle, wenn sie das hinkriegten, könnte man in abertausenden Millionenstädten wieder atmen. Nach dem obligatorisch entmutigenden Arztbesuch der obligatorische Abstecher in den Buchladen für Remittenden. Gefunden: Eric Vuillard: Die Traurigkeit der Erde, und Anuk Arudpragasam: Nach Norden, dazu im Briefkasten noch Arno Stradler: Irgendwo. Aber am Meer. Damit sollten sich wohl ein paar kalte Apriltage überstehen lassen. Im Roman des tamilischen Schriftstellers Arudpragasam fährt der Protagoinist in den Norden Sri Lankas. Dort habe auch ich vom Landsend der Geisterstadt Danuskodi aus übers Meer hinüber geschaut. Der junge Mann im Roman reist in eine ihm fremde Heimat und in seine Schuld, die Massaker und die Lager überlebt zu haben, deren Bilder er als Student aus der sicheren Ferne im Internet betrachtet hat, die Fotos geschändeter Leichen und brennender Zelte, die unbeerdigten Toten des Unabhängigkeitskriegs der Tamil Tigers. (Davon hat er in seinem atemberaubenden ersten Roman „Die Geschichte einer kurzen Ehe“geschrieben.) Anudpragasams bezwingender Sound führt direkt in jene andere, jene entschleunigte Zeit, „die rückblickend scheinbar nichts von Substanz enthielt, keine Veränderung oder Dauer, Zeit die gekommen und vergangen ist, ohne uns zu berühren“….In der uns „die unbemerkt entwischende Gegenwart immer wieder im Gewimmel der Welt abschüttelt, sobald wir wegschauen, und kaum Spuren hinterlässt, zumindest scheint es rückblickend so, wenn wir im nächsten kurzen Besinnungsmoment, bei der nächsten Gelegenheit, in der wir die Dinge festhalten können, merken, wie viel Zeit vergangen ist, seit wir uns das letzte Mal unserer selbst bewusst waren, wenn wir merken, wieviele Tage, Wochen und Monate ohne unser Einverständnis vorüber gehuscht sind….Als wären wir nicht dabei gewesen, während alles passierte, als hätten wir uns woanders aufgehalten während jener Zeit, die man allgemein unser Leben nennt.“ Gieß die Topfpflanzen, gib den Spatzen Futter. Lesen hilft.

Dort hinterm Horizont liegt Sri Lanka.

Anuk Arudpragasam: Nach Norden, 2022, aus dem Englischen von Hannes Meyer, Hanser Berlin

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Everybody loves me, what’s the matter with you

Was ist denn hier los? Die Straßen sind sauber und schattig, sie haben Bäume und französische Namen, in Schaufenstern stehen Wein und Whiskyflaschen in Regalen. Diese Läden heißen High Spirit, Top Knotch oder Welcome Wines und haben so gar nichts gemein mit den hühnerstallgroßen Verschlägen in Schmuddelecken hinter Busbahnhöfen. Die Tuktukfahrer verlangen das Zehnfache des normalen Preises, die westliche Zivilisation meldet sich zurück. Die Kolonialvillen der Weißen Stadt von Pondicherry sind picobello restauriert in taubenblau, sandgelb und natürlich weiß, die holzgeschnitzen Fernsterläden sind zu. Veranden und Balustraden leer, fast niemand auf den gefegten Bürgersteigen, Verkehr ausgesperrt, wohnt hier überhaupt wer?  Nicht zu verkaufen steht an manchen Pforten. Im französischen Kulturinstitut schläft der Pförtner. Nicht weit davon, im Ashram von Sri Aurobindo muss man Schuhe ausziehen und Telefone ausschalten, dann darf man zwischen Topfpflanzen den Marmorsarkophag anbeten, Menschen knien in einer weißen Kammer vor einer leeren, mit Damast bedeckten Liege, Andacht, Stille, Tagetes. Zwischen Homöopathie-Klinik und vornehmem Hotel das Retreat, in einer Halle hören Anhänger der Predigt eines heiteren Vorleseonkels zu, alles ist leicht, das Göttliche überall, in Dir, in mir, Everybody loves me, whats wrong with you. Leider kann ich die Essenz von Sri Aurobindo und seiner französischen Propagandistin, genannt The Mother, (sie kam 1914 nach Pondicherry) nicht wiedergeben, weil mir bei jedem Versuch, die Botschaft auf den rosa und vanillefarben grundierten Texttafeln zu lesen, nach spätestens drei Zeilen das Hirn verklebt. Trotz dem Beteuerungsmantra, dass es nie und nimmer um eine Religion gehe, trieft die Begrifflichkeit dermaßen von Göttlicher Wahrheit, Supramentality, religiöser Unterwerfung, Heiligkeitsverehrung und totalitärem Personenkult um den Guru und eben The Mother. Und jetzt alle: No Religion Om. 1968 gründet die da schon 90 Jährige Mother Auroville als New Age Utopie eines Ortes, in dem 50,000 Menschen ohne Privateigentum (das bringt man ein), Geld, Regierung selbstverwaltet und frei in göttlicher Harmonie leben sollen, Yoga machen, singen, malen. Millionen Bäume wurden gepflanzt, ein Stadtplan in Form eines galaktischen Spiralnebels visitiert, im Zentrum die goldene Mutterkugel, das Meditationszentrum Matrimandir. Am Besucherzentrum müssen die Autos und Tuktuks geparkt werden, ein Restaurant, ein Laden mit handgeschöpften Souvenirs und Stoffzeugs, eine lichte Halle mit goldenen Missionssprüchen und Infotafeln in Babyausstattertönen. Hier müsste man sich einen Besucherausweis für den 1 km langen Fußweg zum Visiting Point (hier Foto machen) besorgen, interessiert aber niemanden. Vereinzelt knattern gutaussehende Bewohnerinnen mit flatternden grauen Haaren auf Mopeds durch die Landschaft, eine handvoll weniger sportive Damen mit Schlapphüten nutzen den geldfreien Auroville-Shuttle für ihren Stadtausflug. Ein verlorener John-Lennon-Verschnitt mit Gandhi-Brille und Dutt radelt vorbei. Für meinen zügigen Rückweg hält der normale Rumpelbus auf der Landstraße an.

Näher darf der gemeine Tourist nicht ran (Besichtigungserlaubnis für Innen müsste man Tage vorher online beantragen)

Im kleinen Stadtpark von Pondy sind alle Schattenplätze besetzt, hundert Schulkinder warten in Reih und Glied auf dem Rasen auf ihre Speisung, am Ende bekommen auch die herumlungernden halbwüchsigen Zuckerwatteverkäufer ein Essenspäckchen. Im Museum sind etwas Mobiliar, Porzellangeschirr und zwei Flügel („Holz, 19./20.Jh.“) ausgestellt, welche die Franzosen bei ihrer Abreise 1956 zurückließen, mehr erfährt man nicht über die komplizierte Geschichte ihrer Herrschaft. (1673 kaufte die französische Ostindienkompanie dem Sultan das Küstendorf ab…), penibel datiert und mit verblichenen Archivzettelchen ausstaffiert erzählen Versteinerungen, Scherben und Faustkeile in uralten Glasvitrinen, sowie riesige Tonkrug-Urnen von älteren Siedlungsgeschichten eines einstigen Arikamedu, das mit den Römern Handel trieb. Ein Sammlung von Wachsbronze-Ausgussfiguren aus der Chola-Zeit… nein Vishnu, lass es, ich geh hier nicht in den Tempel! Ein Pförtner winkt zwingend einladend in die Lesesäle der Romain Rolland Library, Ventilatoren lassen die Stille rascheln, oder sinds die Männer, die in Zeitungen und Magazinen blättern, hier lang, der Arm des Pförtners deutet auf einer Stiege, europäische Literatur eine Treppe höher, in den Regalreihen, How to disappear, Closing Time. „Wenn es einen Ort auf der Erde gibt, wo alle die Träume lebendiger Menschen seit den ersten Tagen, da der Mensch den Traum des Lebens zu träumen begann, eine Heimat gefunden haben, dann ist es Indien.“ Romain Rolland. Zitiert von Shashi Tharoor. Im verkehrs-und einheimischenbefreiten französischen Viertel könnte man Indien kurz vergessen, schick einkehren in einer der zum Heritage Hotel umgebauten Kolonialvillen, sich im europäisch gestylten Restaurant von Kellnern bedienen lassen. Blonde Urlauberinnen mit alkoholfreien Cocktails und qualmende Räucherspiralen zur Abwehr der Stechmücken vertreiben auch mich von dort. Die Slums hinter den Bahngleisen haben Meerblick, junge Männer picknicken im Müll, dazwischen ein Altar, den Gipsgöttern fehlen Arme, ältere Männer teilen sich ein Sonntagsbier in Plastikbechern, sie sitzen im Schatten des zusammengebrochenen Piers der Illumination, Blickwechsel aus Augenwinkeln, was bist Du, Freund, Feind, Fremder, Freak, grüßen, winken, lachen, lächeln, so viel Lächeln wurde mir noch nie zuteil. Look at me. Im Herbst 2021 wurde in Auroville von der Zentralregierung eine neue, Modi nahestehende Generalsekretärin eingesetzt, sie und ein neues Team übernehmen innerhalb weniger Monate alle bisher von der Gemeinschaft gewählten Abteilungen der Verwaltung, Stadtentwicklung, Wohnungen, Straßenbau, Arbeit, Finanzen, das Archiv, email-Adressen, die Media-Einheit, den Vorstand, um den stagnierenden Fortschritt Aurovilles zu beschleunigen. Tatsächlich brauchen Entscheidungen im basisdemokratischen Kommunikationsprozess monate-, wenn nicht jahrelang. Nun werden ohne kommunales Einverständnis über Nacht 1000e Bäume gerodet, Gebäude abgerissen, Straßen gebaut, Kabel verlegt, langjährige Bewohner aus ihren Häusern vertrieben, Räumungen angeordnet, es wird gedroht, die Unterschriften für Visaverlängerungsanträge zu verweigern (1893 von 3312 registrierten Bewohner Aurovilles, Kinder und Erwachsene, Teilzeityogis, sind von Visas abhängige Westler), Prozesse werden geführt, die Community gewinnt, das interessiert nicht, Bulldozer schaffen Tatsachen, ein erster Landesverweis wird ausgesprochen, Leave India. Der Verdacht: es geht um Landübernahme für die kapitalistische Erschließung, Vetternwirtschaft, die übliche Korruption. 54 Jahre Auroville haben die Gegend aufgewertet, die selbstverwaltete spirituelle und ökologische Modellstadt ist ein Touristenmagnet, Hotels, Restaurants, Grundstückspreise drumherum sind explodiert. Vorwurf der nationalistisch regierungstreuen Seite: eine übersichtliche Gruppe westlicher Hippies und Privilegierter hat sich hier breitgemacht, sie lassen ihr Paradies der Selbstverwirklichung von Tausenden Einheimischen, den Arbeitern und Dörflern der Umgebung, zum Leichtlohn beputzen und beackern, denen sie jedoch in rassistischem Neokolonialismus den Zugang zu ihrer elitären Supermind-Gemeinschaft verweigert. New Age ist over. Protokoll der Machtübernahme aus Sicht der Auroville Community: https://standforaurovilleunity.com/timeline-of-the-events/

Christin hört Gottesdienst auf ihrem Handy, Goubert Markt von Pondicherry

Und jetzt, und ich? Bin am Meer entlang gegangen und war auf Märkten, habe in der schönsten Karawanserei Chennais neben der großen Moschee gewohnt, hab Reis mit Masalas auf Bananenblättern gegessen und in siedendem Fett gebackene Samosas und frisch gemixte Limonaden mit gestoßenem Eis getrunken, bin an Teebuden rumgestanden, an Hunderudeln vorbei durch Gassen und auf dieselverpesteten Straßen gegangen, hab einen hinduistischen Friedhof besucht, natürlich bin ich auch wieder in schäbigen St-Antons-Kapellen gewesen, hab den Meisen im Gebälk zugesehen und in furchterregenden Kali-Tempeln mir das dritte rote Auge geholt, hab ein Kingfisher-Bier von High Spirit gezischt und war dem Heiligen High ziemlich nah, als ich vier Bündel Grünzeugs gekauft und vier sabbernd wartenden Kühen gefüttert habe. Jetzt bin ich schon fast zwei Wochen wieder hier. Reflexion? Vielleicht später, wenn ich nicht mehr so debil glücklich mit dem Kopf wackle. Die Kormorane sind alle auf ihren Bäumen in der Bucht.

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Luftige Geister

Nachmittags schlafen die Götter. In der größten Hitze des Tages, bis vier oder halb fünf, bleiben die kühlen Gemäuer und schattigen Wandelhallen verschlossen für die Pilger, die Nachbarn und wenigen Touristen. Bis dahin habe ich Chidambaram und mein neues Hotel erreicht. Es liegt direkt am Osttor zum Tempelbezirk, das erste, das ich direkt bei der Buchung am Tag zuvor mit Karte bezahlen musste. Mehrere freundliche Herren in mokkabrauner Hoteluniform an der Rezeption, Zimmer unterirdisch, Eimer statt Dusche kein Problem, aber „Fenster“ auf den Kellerflur mit Blick auf einen höllischen Generator. Reiseführer, Internet und die diversen Buchungsagenturen taugen hier nicht mehr, hilft nur rumlaufen, fragen und guck, da ist ein Hotel mit Zieharmonikatüren-Aufzug und Zimmern mit Ausblick über die Dächer zum halben Preis. Inder scheinen Zimmer vorzuziehen, in denen man der Welt draußen entfliehen kann. Und wenn die Zeit in Schleifen geht, dann kann der Neumond auch mehrere dunkle Nächte dauern. Im wieder über 1000 Jahre alten Tempel von Chidambaram wird Shiva zu allen Mondphasen und Sternbildern angerufen. Die Prozession der Gläubigen kennt kein Ende, in der 160,000qm (400x400m) umfassenden Anlage haben auch zwei große Freiluft-Kuhställe Platz und ein Saal zur Speisung aller Besucher, Wege sind weiß getüncht, damit man sich nicht die barfüßigen Sohlen auf den dunklen Steinplatten verbennt. Im Geviert aus hohen Mauern und Säulengängen, im innersten Hof, unter einer golden Kuppel, rücken die Pilger geduldig auf, Frauen geben Blumenketten, Bananen und Kokosnüsse in kleinen gewebten Einkaufstaschen ab, Mönche nehmen ungerührt, fast herablassend, die Opfergaben entgegen, leiern monoton Gebetsformeln, händigen Prisen mit Kalkpulver oder Farbe aus. Statt sich einem Punkt zwischen die Augen zu drücken, verreiben Männer die Farbe großflächig auf der Stirn, manche tragen drei fingerbeite quere Streifen, manche haben die ganze Stirn, die Schultern, die Kehle, weiß gezeichnet, von weitem sieht es aus wie ein Mull-Pflaster, ein Kopfverband der Götterverehrung aus Kalkpulver. (Nicht Kalk, sondern heilige Asche, aus Holz- und Kuhmistfeuer, Vibhuti, wie Irene s.u. kommentiert hat.) Überall Mönche, ein paar gebeugte Alte, die Schnur über runzligem Brustkorb, scharenweise Nachwuchsmönche, die Haare kurz geschoren bis auf einen kleinen Dutt wie ein Hörnchen links oben am Kopf, die nackten Oberkörper schweißglänzend, um die Hüften bodenlange weiße Tücher, die sie dauernd richten, zuppeln, neu verknoten, im Bund steckt das Handy, Fotografieren strictly not allowed steht auf Plakaten und digitalen grünen Leuchtbändern, telefonieren und bildschirm checken ist aber ok für die Tempeljünger, sie hocken zusammen zwischen sonnenwarmen Säulen, einige tragen mal eine geschmückte Götterfigur auf einer Sänfte ums Karree, dazu gibts auch Trommeln und Getröte, einige arrangieren ein Tableau aus Obst, Reis, Hülsenfrüchten, Blüten, falten Tücher, winden Schleifen um silbere Gefäße, drapieren Blumengirlanden. sortieren Dekorationen um, drapieren sich selbst zu einen lockeren Kreis, dann Quadrat, rezitieren Mantras, rekeln sich, zwei läuten große Glocken an Seilen, einer versprüht Wasser mit Zweigen, einige verteilen Tabletts und Schälchen um, alles scheint festen, aber undurchsichtigen Regeln zu folgen, hat Bedeutung, oder auch nicht, rituelle Handlungen brauchen keinen erkennbaren Sinn, nicht für Uneingeweihte, vielleicht spielen sie nur, ewige Kindheit, existieren einfach, in zeitloser Unschuld in der Nähe der Götter, inmitten des Glaubens, einer löst ein Seil um ein Holzbündel, einer macht ein Feuer an, einer trägt Metallkannen hin und her, einer wirft Blüten und Tellerchen mit Esswaren ins Feuer, einer löffelt Öl hinein, sie singen, schwatzen, kratzen sich, die Körper glänzen, Speckpölsterchen, zarte Bäuchlein, müßiggängerische Komparsen eines Historienschinkens, tableau vivante, ein wenig schwul, Jünglinge in einem Gemälde von Caravaggio. Abend für Abend geht das so, spenden, opfern, im Uhrzeigersinn um Altäre gehen, anbeten, die Mächte der Götter beschwören. Shivas Erscheinung aber, so das weise Geheimnis der Tempelanlage von Chidambaram, bleibt unsichtbar. Selbst die  Mantras für seine Anrufung, erklärt mir ein Altardiener, sind unhörbar. Good luck schreibt er in mein Notizbuch. Shiva ist ein Geist, Äther, die kosmische Energie liegt in der Luft, ist himmlische vibration. Ein Nackter läuft die vielbefahrene East Car Street entlang. Seine Haut hat die Farbe von Asphalt unter Zementstaub. Der ganze Zauber ist kein Film, es sind keine Szenen aus alten Gemälden oder Opernkulissen, die Tempeljünger keine Komparsen in einem Kostümfilm, die Männer, die sich auf den Boden werfen, die Frauen mit ihren Plastiktaschen voll Blütengirlanden, die Priester mit ihren gleichmütigen Litaneien, alle sind echt, alles ist wahr. Der Glaube ist gegenwärtig wie die sonnenwarmen Säulen und der Sichelmond, lebendig wie die Mauersegler, die Fledermäuse, der Rauch und der Schweiss. Ein Spektakel ist es nur für den unbeteiligten Zuschauer. Der vergessene Statist in einer unvollendeten Geschichte bin ich.

Hier gibts den besten Kaffee von Chidambaram
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Zu Neumond dreht der Kosmos durch

Geh nach links, dann rechts, wieder links, und dort, unter dem Neembaum, hält das Sammel-Tuktuk zum Busbahnhof. Drei Busbahnhöfe weiter, an denen keiner englisch spricht, das Übersetzungsprogramm zum Entziffern nicht hilft, wo ein vollbärtiger Kioskbetreiber mir plötzlich einen Zettel reicht, auf dem er die Umsteigestationen in tamilisch und lateinisch geschrieben hat, erreiche ich nach sieben Stunden Rüttelfahrt mit Popmusik die nächste Tempelstadt. Thanjavur soll geschützter Ort, refuge, bedeuten. Für mich sind die Busbahnhöfe so rätselhaft wie die allgegenwärtigen Göttergeschichten. Der Betonmischer wird Leitmotiv. Die ganze Altstadt ist eine Baustelle. Der einst mit einem Festungsgraben umgebene Kreis um den alten Palast bekommt Kanalisation, die Straßen sind aufgerissen, Verkehr und Passanten bahnen sich Wege zwischen Schutthaufen und Löchern, Bretter und eiserne Treppengestelle führen zu den Hauseingängen über die offenen Abwasserrinnen, um Platz für Rohre aus den alten Gemäuern zu schaffen ist bei einigen Häusern gleich die ganze Vorderfront abgerissen, halbierte Zimmer, mit Balken abgestützte Fassaden, bröckelnde Intimitäten, hellgrün getünchte Zimmerwände, historische Mauerreste, zugewachsene Brachen,verrostete Gatter, Müll. Wenig Kühe, kaum Ziegen, dösende Hunde, die Krähen sind am Fischmarkt. Auch der Park mit Zoo und Botanischem Garten wird renoviert und bleibt für ein halbes Jahr geschlossen. Aber mein „Boutique“-Hotel ist schick, mit Tropenholz-Möbeln, leckenden Design-Armaturen und dieser modernen indirekten Beleuchtung, bei der man nicht lesen kann. Unter den vielen billigeren Lodges für die jährlich über zwei Millionenen indische Besucher des über 1000 Jahre alten Tempels war es das einzige in der Innenstadt mit Fenstern und wifi, das wegen der Straßenbauarbeiten nicht geht, was eigentlich egal ist bei 1,5GB täglich auf der indischen e-sim (8€ für 2 Monate). Im Palast ist ein Museum mit dem was übrig blieb von Jahrhunderten an Macht und Reichtum, Steingut und Metall, Schmuck, Gefäße, Waffen. Das Prachtstück ist eine Bibliothek, im 17. Jahrhundert sammelte der Sepoj Aberttausende an Büchern, Manuskripten auf Palmblattstreifen, Miniaturmalereien, Lithografien, Stiche, No Photos, der Wächter nimmt mein Notizbuch, blättert drin und gibts mir nickend zurück. In Vitrinen mit Mottenpulversäckchen liegen Altanten zu Medizin, Astrologie, Anatomie, europäischen Städtepanoramen, Zeichnungen von Schmetterlinge und Pflanzen, physiognomische Nasenvergleiche von Menschen und Tieren, ein Sammelsurium aus Neugierde, Hunger nach säkularer Bildung, Wissenschaft und Kuriositäten, nach weltlicher Aufklärung.

Am Nachmittag werden die Straßen gefegt, Müllfrauen kehren mit Grasbesen Unrathaufen auf Planen zusammen, lehren fransige Säcke auf Ladeflächen kleiner Lastwagen. In einem der vielen kleineren Tempel der Altstadt bringen Frauen auf Schnüre gefädelte Zitronenketten, ein Priester presst sie eimerweise aus, einer spült mit dem Saft die Metallteile der Götterstatuen, einer wäscht Vishnu, Lakshmi und Ganesha damit ab, desinfiziert gegen alle Feinde, erklärt ein Graubärtiger mit nacktem Oberhörper. Vor einem Tempel melken Männer heilige Kühe, daneben verkauft einer die Milch direkt aus Metallkannen. Ein Mönch mit Zopf speist arme Männer von einem Holzkarren aus mit einer Milchspeise. Der Nachtportier im Hotel erzählt, dass heute Nacht kosmische Energie hernieder gehe, um was davon abzukriegen, muss man fasten und wachbleiben. Es ist Neumond, die dunkelste Nacht des Jahres, Mahashivratri, das höchste Fest für Shiva, fällt dieses Jahr auf den 18./19. Februar. Im Tempel von Thanjavur, der Shiva gewidmet ist, wird ab Einbruch der Dunkelheit gefeiert, geopfert, gebetet, Musik gespielt, vorgetanzt, gepicknickt, das ganze Familienprogramm, die ganze Nacht hindurch. Die ausgedehnte Tempelanlage stammt (wie in Madurai und Rameswaram) aus der Zeit der Chola-Herrscher um 1000, Thanjavur wird schon im 5.Jahrhundert in indischen Schriften erwähnt. Die Reliefdarstellungen der Götterszenen auf den Tempeltürmen sind hier unbemalt, Licht schattiert die Figuren aus dem gelben Sandstein, in der Abenddämmerung glühen sie auf. Väter tragen Kinder, die Töchter herausgeputzt in Tüll und Glitzer wie Eisprinzessinnen oder Pralinenverpackungen, bevor sie einschlafen, den Kopf auf einer Schulter, toben sie schreiend herum, nichts stört die entspannte Stimmung, an der mehrere Meter großen Skulptur des Nandi, Reitstier von Shiva, (alle Götter haben ihr Transportmittel) begiessen Mönche auf eine Leiter ihn mit Wasser. Musiker trommeln und tröten wie Schlangenbeschwörer aus langen Trompeten, eine Frau geht mit einem roten Eimerchen herum und verteilt mit einer Schöpfkelle lauwarme Kichererbsen, eine andere löffelt Knödelmasse in aufgehaltene Hände, Scheinwerfer strahlen auf eine rotbespannte Bühne, glitzernd kostümierte Tänzerinnen mit maskenartig geschminkten Gesichtern stampfen rhythmisch mit roten Sohlen auf und lassen Fußschellen bimmeln, Arme und Hände knicksen und winden sich sich in abgezirkelten Formationen, ein Sänger rezitiert ein episches Gedicht, nach einer Stunde tritt das nächste Tänzerensemble auf, bis zum Morgengrauen werden die Darbietungen gehen, 30, 50 oder 100.000 oder mehr? Menschen sind auf dem Tempelgelände, sie alle müssen durch das eine große Tor des Gopurams, des über 60m hohen Turmes. Polizisten schleusen die Menschenströme durch den Flaschenhals, mit dicken Seilen wird Zugang und Rückstrom barsch kanalisiert, abwechselnd geblockt, furchterregendes Gedränge, in dem doch niemand rücksichtslos ist, eine Frau strauchelt, sogleich bildet sich Raum um sie. Um Druck aus der Masse zu lassen, werden immer wieder Tausende durch eine eisengenoppte Holzpforte in der Festungsmauer hinausgeleitet, Notausgang, Fluchtweg, kein Unglück geschieht in dieser Nacht. In allen Tempeln, an allen Ecken wird der himmlische Tanz Shivas und die kosmischen Kräfte beschworen. Ist Vollmond wirklich erst zwei Wochen her?

Im Schrein brennt noch Licht
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Feeding a Thousand Souls

Der Fischerhafen ist von der Pilgertauche nur durch ein Müllfeld getrennt. Schwarze Schweine mit ein paar Frischlingen rüffeln dort herum. Bei der Mole schaufeln Kerle wie aus einem Piratenfilm silberne Fischberge in Transportkisten, oben kommt eine Schippe Eis drauf, dann werden die Kästen direkt in die wartenden Lkws verladen. Auf Brachflächen zwischen Schuppen und Behausungen trocknen Frauen kleinere pinkfarbene Fische auf Planen. Neben einem hellblauen Tempelchen steht eine eine mächtige rosafarbige Kirche mit pagodenartig gestaffeltem Turm am Strand. St. Antonius ist aber selten da. Ein Vordach über den Treppen zum Eingang bietet Schatten, ein paar junge Männer liegen auf dem glatten Stein und halten Siesta. Es riecht nach Meer und Diesel. Denis hat funkelnde Augen und schiefe Zähne, er ist einer der Fischer, 31, sein ganzes Leben hier, unverheiratet, sei besser wegen der Freiheit, sagt er. Bis zu 5000 türkisgrüne Kutter liegen draußen in mehreren Reihen hintereinander vor Anker, zwischen ihnen und dem Ufer fahren kleinere Boote mit Außenbordmotor hin und her, sie transportieren Plastiktonnen mit Treibstoff auf die Fischkutter und Beute, Netze und  Männer zurück an den Strand. Krummbeinige Männer führern weiße Ochsen mit einachsigen hölzernen Lastkarren bis zum Hals ins Wasser, manche Ochsen sind mit einer goldenen Glockenkette zwischen den harfenförmigen Hörnern geschmückt. Wo die asphaltierte Straße sich in Sandwegen verliert, gehen auch die Häuser in Hütten aus flüchtigem Material über, Gemäuer und Wellblech, Bretter und Palmstrohmatten, Planen, mit Schnüren zusammmengehaltene Fundstücke.

Ein Dorfdepp will fotografiert werden, will das Telefon, grabscht nach meiner ausgebeulten Hosentasche, verliert das Interesse, als ich die gelbe Schneckenmuschel raushole. Im Schatten geduckter Bäume und zerzausten Hütten entwirrt ein Fischer mit Frau die Netze. Die letzten Boote auf dem Strand fahren nicht mehr aufs Meer.  Der leere Sandstrand läuft im schmalen Zipfel der Halbinsel aus, bis die Welt oder eben Indien zuende ist. Salzpflanzen mit fleischen Blättchen und winzigen Blüten und dolchspitzes Gras überziehen wie ein Flaum den Sandboden zwischen einem langgestreckten Priel. In der flirrnden Hitze darüber vibriert eine Luftspiegelung, obwohl ich viel zu weit weg bin halte ich den Atem an, da erhebt sie sich als rosa Wolke, Flamingos! Am Meersaum kristallisieren sich zwei Gestalten im Gegenlicht, ein Bild von Camus, ich kehre um. Tage später werde ich dort ins Wasser gehen, und danach so lange im Wind stehn, bis mein Hemd getrocknet ist. Unter einem Strohdach lagern vier Männer auf Ballen von Netzen, musternde Blicke, einer mit schriller Fistelstimme kommt hinter mir her. Er hat einen goldenen Fleck auf der Stirn, er will mir eine Limoflasche geben. Wo die Hütten wieder zu Häusern, und die Stiele der Palmblätter zu Zaunpfählen werden, versorgt ein kleiner Tankwagen die Bewohner mit Trinkwasser, sie füllen Kannen und Karaffen aus buntem Plastik. Am Tor zu einem Tempel stehen schwatzende Frauen, sie laden mich in eine lichte Halle mit Klapptischen und Bänken ein und tischen mir sogleich aus großen Alutöpfen Essen auf. Ein Mann starrt mich unentwegt dabei an, wie ich einhändig Gemüsecurry, Hühnchebrocken und Reis von einem Bananenblatt mantsche, ab und zu beißt er krachend in eine Karotte, als ich kurz mal zurückstarre, verzieht sich seine Dämonenmaske zu einem überirdischen Strahlen. Eine Respektsfrau lehnt meinen Spendenversuch unwirsch ab, stattdessen bereitet sie ein Betelnusspäckchen zu, das ich blöderweise ablehne. Fremden essen zu geben, den Armen und den Tieren, lese ich, ist Teil hinduistischer Tradition und Rituale. Eine Ziege knabbert das wabbelige Kokosnussfleisch aus deiner Hand. Von der Hauptstraße aus sind Trommeln und Tröten einer Prozession zu hören. Sie folgt einem mit Blumen geschmücktem Karren, vor einem kleinen Haus hält der Zug an, Frauen und Männer gehen im Kreis, sie umrunden etwas in ihrer Mitte, glänzende Tücher und silberne Gefässe blitzen auf, alle reden durcheinander, als wüsste niemand so recht, wie das Ritual geht, sie gehen im Kreis und  schütten Wasser und Blüten auf einen aufgebahrten Körper, das nasse Gesicht der Toten. Ich stehe nur durch eine schmale stinkende Abwasserrinne von der zeremoniellen Totenwäsche entfernt, aber das scheint niemanden zu stören, ein Mann in Weiß tritt zu mir rüber und erzählt, dass die Tote erst 30 war und die drei Jungen hinterlässt, um die sich im Moment niemand schert. Die Leiche wird in trockene Tücher gehüllt, der leichte Körper dabei mehrmals angehoben, in Bänder gewickelt, das Kinn hochgebunden, ein Mann sprenkelt Duftöle über sie und weitere Blüten. Der Himmel ist rot. Where you from, spricht mich unter den Toren am Pilgerstrand eine amerikanische Inderin an. Nach kurzer Konversation stellt sich heraus, dass sie die Autorin Vijaya Nagarajan, Professorin in LA ist. Sie hat ein Buch geschrieben über die Tradition tamilischer Frauen, diese ephemeren Mandalas, sie heißen in hier Kolams, an den Türschwellen der Häuser zu malen. Ja, Geschichte sei ein unabgeschlossener Prozess und die Zeit, sagt sie, sei hier ein dreidimensionaler Kreis, eine Kugel? Wenige Stunden später schon lese ich  „Feeding a Thousand Souls“ auf meinem Endgerät, was mir rein technisch auch wie ein Wunder erscheint. Unter einem Baum mit Luftwurzeln macht ein junger Mann Limonade aus frisch gepressten Zitronen, Zuckersirup und gestoßenem Eis. Ich sitz auf seinem Hocker, sauge das köstliche Getränk mit einem Strohhalm in mich hinein Und da geschiehts: Ich fotografiere eine Betonmischmaschine! War so picturesque. Ein wildes Pferd auf der Straße zwischen rasenden Mopeds, ein 800 Jahre alter Shiva aus Ebenholz, den ein Mönch mit Zitronensaft wäscht, eine Gasse voller Messerschleifer mit Fußkurbeln, ach was, da hol ich mein handy schon gar nicht mehr vor.

Und Kinderfotos gehen schon mal gar nicht

Vijaya Nagarajan Feeding a Thousand Souls, Women, Ritual and Ecology in India, An Exploration of the Kolam, Oxford Press 2018.

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Ende der Welt

Danushkodi wurde 1964 von einem Zyklon zerstört

An der Straßenecke spuckt einer in hohem Bogen aus. Ein Kalb knabbert an mir herum. Der Tee ist kaum getrunken, da zeigt der Spucki auf den heranfahrenden städtischen Bus nach Dhanishkodi. Dort ist das Ende der Welt. Ein Zyklon hat 1964 dort den kleinen Ort mit 2000 Bewohnern samt Bahnhof und Kirche ins Meer gefegt. Seither ist Dhanushkodi eine Geisterstadt, nur ein paar Fischer in Strohhütten leben noch dort, ohne Strom und Wasser, ein paar DinA3 große Solarzellen für ein Radio, Telefonladestationen. In Ölfässern fachen Frauen Feuer an, auf denen sie Fische für die Ausflügler grillen, denn Geisterstädte sind attraktiv für Touristen an, deshalb erklärte die Regierung die Landzunge zum Nationalpark und ließ die Straße bis zum Endpunkt aphaltieren. Den Wendekreis markiert eine Säule, neben den parkenden Bussen hocken Verkäuferinnen mit Muscheln und garantiert echten Perlketten für 100 Rupien, unter windzerzausten Sonnenschirmen duftet es nach frisch aufgeschnittener Ananas und grünen Mangos in Chili, ansonsten ringsum Nichts in grell weißem Licht, ein paar Büschel Dünengras auf flachen Sandstreifen zur einen Seite, schwarze Steinblöcke zur anderen, hier treffen der indische und der bengalische Ozean aufeinander, 24 km weiter hinter dem im Flirren aufgelösten Horizont beginnt Sri Lanka. Auf der ebenso nicht sichtbaren Adams Bridge, ein paar Felsbrocken im Meer, soll die Affenarmee Hanumans hinüber gesprungen sein, um die entführte Gattin Ramas zurückzuholen. Ein eher symbolischer Plastik-Checkpoint am Beginn der schmalen Landzunge zeugt vom guten Plan, dahinter stakt ein Pfau durchs kurz unvermüllte Gehölz, ein paar wilde Pferde grasen in flachen Wasserprielen, Rabenkrähen auf der Kirchenruine, der Schrein für einen blauer Ganesha halb im Treibsand versunken, Seeadler kreisen über Fischerbooten am Strand. Die Wellen beider Ozeane sind müde.

Für den Lift zurück renne ich mit einem Dutzend Anderen dem schon gestopft vollen Bus hinterher, wir drücken uns alle hinein, als letzte darf ich in der Tür hängend den kühlenden Fahrtwind kosten. Der Schaffner gibt mir ein Ladiesticket für umsonst. Die Geländerpoller der Uferpromenade in Rameswaram bröckeln in Eiscremfarben, am Strand ein räudiger schwarzer Altar zwischen angeschwemmten Lumpen, sind die Götzen hier schwarz, weil die Südinder alle so schwarz sind? Ein orangegewandeter Mönch sagt, er beobachte mich seit drei Tagen, weil auch er allein herumspaziere, und für dem Fall, dass ich mal Hilfe bräuchte, sollten wir Nummern tauschen. Fehler, denk ich noch, der erste Anruf des besorgten Mönchleins kommt kurz vor Mitternacht. Nimm Dein Essen wie Medizin, sonst brauchst du Medizin wie Essen, gibt er mir erst mal als Leitsatz mit, ich verabschiede mich dankend und stelle mich der täglichen Herausforderung, öfters zu essen. An einem türkisfarbenen Handkarren serviert ein junger Mann mit Duschhaube knusprig zerstoßene Samosas mit Zwiebeln, Möhrenraspeln und heißem Kichererbsencurry auf einem Tellerchen mit Bananenblatt. Hi Grandma, grüßt er mich, und wie im morphogenetischen Feldersystem werd ich von da an den entlegendsten Orten mit Hi Granny empfangen. Als solche krieg ich dann auch immer einen Hocker angeboten. So geht die vita contemplative gleich nochmal so gut.

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Magical Mystery Tour



Ein fast schmerzhaft blendendes Licht liegt wie Spiegelscherben in den Gassen. Der silberne Himmel scheint von keinem Horizont begrenzt, alles darunter hat nur ein Ziel, ein Zentrum, einen Existenzgrund. Rameswaram ist eine wuselige Kleinstadt (mit etwa 50000 Einwohnern) um eine Tempelanlage aus dem 12. Jh., und nach Varanisi eines der zweitwichtigesten Wallfahrtsziele für hinduistische Pilger. Eine Festungsmauer mit vier riesigen Türmen und Toren zu allen vier Himmelsrichtungen bilden ein Quadrat, im äusseren Ring ein Wandelgang mit steinerenen Säulen und Lotosblumenmandalas an der hohen Decke, zu einer Seite der quadratische Hauptteich mit Treppen ringsherum, ein paar knorrige Bäume stoisch zwischen verfallendem Mauerwerk, Schreine in Nischen, glänzende Goldkuppeln, grelle Dämonen mit Klauen und gefletschten Zähnen, bunte Fabeltiere, Tänzerinnen, kämpfende Halbgötter und Titanen, labyrinthische Wege, versteckte Altäre, immer wieder Brunnen, genau genommen 22, aus denen die Pilger sich von Priestern in ritueller Abfolge mit Blecheimern übergiessen lassen. Ein uniformierter Wärter am Südtor winkt mich gelangweilt durch, niemand schert sich um meinen Beutel, in dem meine Sandalen sind, um mein Handy, um mich, unbehelligt streife ich durch die ausgedehnte Ablage, die Säulengänge sind leer, der Boden noch nass vom Sauberspritzen, nachlässig offengelassene Schranken zu (für Ungläubige) tabuisierten Schreinen, ducke mich in gekachelten Käfigen für die von Russ und Jahrhunderten geschwärzten Götzenfiguren, knipse einen der düstersten Altäre, lösche das Foto gleich wieder, Lakshmi behängt mit Blumengirlanden, Opfergaben auf dem Boden, Undefierbares im Zwielicht funzeliger Öllämpchen, beim Hinausgehen am Osttor werde ich verscheucht, erst da dämmert mir, dass ich zur nachmittäglichen Schliesszeit im Ramanathaswamy Tempel war. Aber das Allerheiligste kommt ja noch! Vier hohe rotweiße Tore rahmen den Blick aufs Meer. Das Bad am Saum des indischen Ozeans, der hier sanft und ziemlich dreckig ans Ufer plätschert, ist für die Tausenden Pilger der obligatorische Auftakt für das Reinigungsritual in den folgenden 22 Brunnen. Zwischen Kühen und Strandgut waten Frauen im Sari und halbnackte Männer zögerlich ins lauwarme Wasser, spritzen sich nass, zerren schreiende Kinder mit, halten sich die Nase zu und tauchen kurz kopfunter, kreischen und posieren klatschnass für Erinnerungsfotos. Den Rest des Tages sitz ich bei den Kühen im Sand und schaue zu. 

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Unterm Ornament

Blinder Bettler vor dem Eingang zum Tempelbezirk in Madurai

An einer Straßenecke im Tempelbezirk wird Buttermilch mit Koriander umsonst verteilt, man muss sie in den Mund schütten, ohne den Alubecher mit den Lippen zu berühren. Mir läuft sie übers Kinn den Hals, das Hemd hinunter, bald riech ich so ranzig wie die mit Butter beschmierten Götterstatuen. In den Tempel selbst darf nichts Unreines. Schuhe, Kameras, Telefone, Kosmetika, Esswaren, Schirme?und Ledersachen müssen vor den Toren abgegeben werden, gegen ein paar Cents gibt es Handy-Schließfächer, Garderoben und Schuhboxen. Die Hindus werden in zwei engen, nach Geschlechtern getrennten Reihen zwischen Messinggattern an den Schreinen entlang geschleust, Mönche in weißen Schnüren und Lendenschürzen nehmen ihnen die Spendenteller mit Bananen und Blütenketten ab, murmeln Gebete, segnen und tupfen den Pilgern Farbflecken auf die Stirn. Für uns Ungläubige gibt es unter den 33 000 hier vetretenen noch genug Götter in rußigen Nischen zu bestaunen, deren Namen, Geschichten und Bedeutungen ich mir eh nie merken könnte. In der zum Museum umgewidmeten 1000-Säulenhalle sind weitere hunderte kleinerer Steinfiguren ausgestellt, statt Beschriftungen ist der Boden ihrer Glasvitrinen mit einer staubigen Schicht aus Geldscheinen und Visitenkarten bedeckt. Ein munteres Kerlchen verkauft in einem der buntbemalten hohen Wandelgänge offizielle Tempel-Fettküchlein, Trinkwasser gibts gratis aus einem Alutank. Wie alt ist die Tempelanlage für die fischäugige Göttin Meenakshi? Sie wurde mit drei Brüsten geboren, nachdem ihre königlichen Eltern erfolglos eine Dreijährige auf einem Feuerchen geopfert hatten, um einen Jungen zu bekommen, sie schlug sich wacker als kriegrische Königin, heiratete Shiva und gemeinsam war ihr himmlisches und irdisches Reich sodann unschlagbar. Ihr zu Huldigen, warum?, wurde nun dieser opulente Tempel errichtet, vor 1000, 1600 oder doch eher 600 Jahren. Wird er immer weiter gebaut, renoviert, zerbröselndes erneuert, kaputtes ersetzt, verblasstes frisch getüncht? Hat Geschichte hier vielleicht ein anderes Konzept? Weniger eine Abfolge von Daten und Zahlen, keine festes numerisches Ordnungssystem, eher ein flüssiger, unabgeschlossener Prozess? Lebt die Geschichte weiter in all den Tausenden von Besuchern, die täglich kommen und opfern und beten und rußende Öllämpchen anzünden? Wird man auch Teil des großen Ganzen, wenn man nur staunender Betrachter ist? 

Eine Frau mit einer Schale Kreidepulver geht durch die Strassen des Tempelbezirks und malt Mandalas vor die Eingangstüren. Sechssternig, zwölfstrahlig, lotosblumig, mit Wellenlinien, Punkten und Kreuzen. Vor manchen Juweliergeschäften, wie auch vor meinem Hotel, sind sie besonders prächtig. Entscheidet sie selbst, was sie malt, schickt sie jemand, wird sie dafür entlohnt? Die Anlage der Gassen um den Tempel ist selbst ein Mandala, alles wird Teil eines höheren Musters, jede Teebude hat ihren Platz im Ornament des Kosmos. Zwischen allen den winzigen Läden, in den Gassen der Messingklopfer und Alutöpfe, dem Straßen der Plastiklatschen, Elektronikteile und Badarmaturen sind kleine Schreine, manche versteckt in schmuddeliher Schäbigkeit, manche von einer funzeligen Glühbirne erhellt, andere mit goldenen Toren und von pastellfarbenen Fabeltieren bewacht. In einen eher unscheinbaren Schreinverschlag winkt mich ein verschrumpelter Alter hinein, ein Mönch oder Priester gibt mir in routinierter Gleichgültigkeit Wasser mit einem goldenen Löffelchen, das ich trinke, einen Zweig welke Minze, den ich esse und zwischen die Augen tupft er mir einen orangefarbenen Klecks. Aber yeah, bei Hanuman, dem Affengott, der wird mich stark machen, erklärt der Alte, indem er die Muskeln an seinen dürren Armen anspannt. Um mein drittes Auge nicht gleich zu verschmieren, setz ich bis kurz vorm Hitzschlag meine Schiebermütze nicht mehr auf. Der kleine Mann im lilafarbenen  Rock über dem Kugelbäuchlein hat hennarote Löckchen und heißt Ganesh wie der Elefantengott. Und weil Ganesh ein Schneider ist, muss ich jetzt halt so ein Seidenhemd machen lassen. Am Bahnhof liegen Schlafende auf dem sauber gewischten Fußboden. Vor dem Ticketschalter muss man ein langes Formular ausfüllen, lange Anstehen am richtigen Schalter, aber ich krieg trotzdem keine Fahrkarte für die nächste Woche. Dann eben wiederTuktuk zum Busbahnhof, Plattform finden, einsteigen, Fensterplatz, mit Glas, heißt Klimaanlage und Musik. Abfahren ist jedesmal ein Glücksversprechen.

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Go rest!

Meenakshi Amman Tempel, Osttor, Madurai

Der barfüßige Busfahrer steckt sich eine Kippe an, bevor er schwungvoll die erste der 113 steilen Haarnadelkurven von den Hügeln der Westghats Kerala in die Ebenen Tamil Nadus nimmt. Dazu dreht er die Musik lauter, hingebungsvoller Kitschpop, es geht quasi senkrecht von 1400 auf 300 Höhenmeter runter, zugleich von 24 auf 36 Grad hoch. An der Rezeption vom Hotel Temple View herrscht mich der Manager in einem so rüden Ton an, dass ich ihn gleich ins Herz schliesse. Fill in! Pay! Change room tomorrow! Damit knallt er mir den Schlüssel hin. Das Zimmer hat Deckenventilator und meine erste heisse Dusche seit drei Wochen, es gibt auch ein brütend heisses Flachdach, was hier als „Dachterrasse“ firmiert. Von da kann man die spektakulären Tortürme des nahen Meenakshi Tempels sehen, über 66 m hoch und bis oben hin mit mit pastellfarbigen Relieffiguren aus der sagenhaften hinduistischen Dämonen- und Götterwelt bedeckt. Madurai hat mehr als 1,8 Millionen Einwohner und ist eine der ältesten bewohnten Städte der Welt, vor 2500 Jahren soll es bereits in arabischen, römischen und griechischen Schriften erwähnt worden sein. Was, warum? Und in hinduistischen Schriften? Mopeds und Tuktuks knattern durch die kopfsteingepflasterten schmalen Gassen, verschlissen sind die bruchstückhaften Straßenbeläge, Löcher klaffen auf Gehsteigen, zwischen Schutt und Schotter sammelt sich Müll, Kühe und Hunde stöbern darin herum, auf Handkarren werden Handtücher, Kokosnüsse und in Zellophan verpackte Hemden angeboten, in winzigen Verschlägen brutzeln Männer in karierten Handtüchern Fettgebäck in brodelnden Eisenpfannen, auf dem Boden kauern alte Weiblein mit Körben voll Knoblauch, Bananen,Trauben und Blüten in dünnen Plastiktütchen. Über das Pflaster der autofreien Straßen um die Festungsmauer des Tempelkomplexes schweben schmetterlingsgleich Schwärme von barfüßigen Frauen in wehenden Saris, braune Männer mit glänzenden nackten Oberkörpern und saphiergrünen Lendentüchern traben im Gänsemarsch vorüber, wandlende Spielzeugregale mit einer blinkender Krone aus Staniolwindrädchen treiben in den Menschenströmen, zwei Polizisten schlendern Hand in Hand, ein Krüppel bietet rosafarbenen Plüschtäschchen feil, ein Hinkender scheppert mit einer Rassel. Eine zierliche Bettlerin streckt ihre leprös verstümmelte Hand aus, mit der sie die Münzen nicht halten kann. Die Schmuckverkäuferinnen lagern mit Kindern, Glasketten und Messingreifen auf Tüchern auf dem Boden, es gibt ein Geschrei, Frauen zetern, schimpfen, kreischen, gehen handgreiflich auf einen Kerl los, der um sich haut, dagegen ist Kathakali kalter Kaffee. Eine barfüßige Bucklige kauft einen Kuchen und teilt ihn mit einem Straßenhund. Überall liegen Hunde dösend mitten im Weg, auf den polierten Steinmäuerchen unter dem Gitterzaun rings um die Tempelmauer palavern Männer in weißen Wickelröcken, einer in Hemd und Bürohose meditiert mit geschlossenen Augen und murmelt Mantras, Frauen in Glitzertüchern mit großen Taschen glucken zusammen auf dem Boden, ein Weißhaariger liest Zeitung, breitet sie auf dem Boden aus, bettet sich drauf und schliesst die Augen. Überall liegen Schlafende herun, auf einem Stück Papier, einem Tuch, einem Lumpen, einer Stufe, mitten auf dem Bürgersteig, einfach auf dem warmen Stein. Und da passierts. Es tobt, lärmt, brüllt, klingelt, surrt, es ist heiß, laut, dreckig, ich setze mich auf den Borstein und alles wird ganz still. Heiligs Blechle. Was für ein Glück, da zu sein. „Go rest!“ bellt der rüde Manager an der Rezeption lg, als er meine Buchung verlängert. Dazu grinst er.

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Top Station

Teeplantagen bei Munnar

Die Nilgiri Hills, wörtlich die Blauen Berge, heißen so nach dem blauen Blüten des nur hier wachsenden Strauch Neelakurinji, der nur alle 12 Jahre blüht. Dann überziehen sie die Hügel mit einem blauen Teppich. Das ist zwar erst 2030 wieder der Fall, aber blau sehen die Berge auch durch die Ferne aus, die dunstige Luft, die Himmel und Höhenzüge ineinander übergehen lässt wie auf den Gemälden der Renaissance, als die Landschaft noch eine Übung in gerahmter Perspektive war. Nicht alle Kühe sind heilig. Manche haben eine Marke am Ohr und eine Besitzer. Der Schlachter trägt ein buntes Tuch als Mundschutz und säbelt mit seinem machetenartigen Messer mit gebogener Spitzen Fetzen vom aufgehängten Corpus. Neben der Metzgerei am Ende einer Sackgasse zum Flussufer hinunter meckern vier Ziegen in einem Drahtverhau. Im Gemüsemarkt nebenan thront die Händlerin mit dem Göttinennamen Parvati hinter einem Haufen Kartoffeln und Kohlköpfen. Es duftet nach Minze und Koriander. Sie pflückt eine Handvoll hellgrüner Curryblätter von einem Zweig und schenkt sie mir. Ein Stand weiter sitzen zwei junge Männer in einem Meer aus grüne Bohnen. Sie säubern sie einzeln, bis sie damit fertig sind. Ein Schneider an einer schwarzen Nähmaschine trennt eine Naht an einem kleinen Stück Stoff auf.

Die in Eierkuchenteig frittierte Banane wird auf einem Stück Zeitungspapier serviert, alles was man an Obst, Kuchen, Samosas, Möhren, Rote Bete, Kräuter lose kauft, wird in Zeitungspapier eingewickelt und mit einem Faden verschnürt. Wer liest vorher, was in der Zeitung steht? Es gibt keine Plastiktüten mehr. Keine. Es stinkt auch nirgends mehr. Innerhalb von 20 Jahren ist es Indien gelungen, dass von zuvor nur einem Drittel der Bevölkerung nun nahezu jeder Zugang zu einem öffentlichen oder privaten Klo hat. Wegen des Gefährlichkeit, sich draußen im Dunkeln zu entblößen, haben viele Frauen und Mädchen ab Nachmittags nichts mehr getrunken oder gegessen. In den Bussen sind die vorderen Bankreihen für Frauen reserviert. Bald sind Wahlen in Kerala, derzeit sind die Kommunisten an der Regierung, deshalb wird wohl jetzt die Kongresspartei gewinnen, immer abwechselnd, das sei auch gut so, sagt Mani. Er ist Touristenführer und hat grad nix zu tun, deshalb spaziert er ein bisschen mit mir durch das Marktgewusel von Munnar, er kennt sich toll in der Natur aus, sein Handy ist voller Fotos von Vögeln mitsamt deren Sound. An der Bushaltestelle checkt er die Abfahrtszeiten nach Madurai für mich, Internet und Reiseführer taugen hier nichts mehr, lädt mich zum Tee ein, jetzt whatsappen wir. Also, wenn mal jemand hier in der Gegend einen super Guide braucht: +919446719485. Hätt ihn besser auch nach dem Bus zur Top Station gefragt. Den gibts nämlich entgegen Reiseführer et all nicht, stattdessen aber fahren Jeeps in die Richtung. In einem finde ich mit einer Großfamilie und ihrem Hausstand auf dem Vordersitz neben drei schmächtigen Männern einen Platz. Nach knapp zwei sportlichen Stunden in Serpentinen an endlosen Teemonokulturen großer Firmen, an einem silbergünen und einem dunkelblauen Stauseen vorbei, wo Hunderte von Charterbussen Tausende Sonntagsausflügler auskippen, die am Straßenrand unter Eukalyptusbäumen picknicken, erreichen wir die Hillstation. Auf 1900m Höhe verhängt leider einer Wolke die sagenhafte Aussicht und statt kolonialem Luftkurortfair gibt es eine abgeranzte Shoppingmal aus Buden. Neben gefütterten Regenjacken sind rosafarbige Teddibären, Plüschherzkissen, indianische Traumfänger, Erdbeermarmeladen und lokale Schokolde im Angebot. Was es nicht gibt, sind Jeeps zurück. Musst du Anhalter, sagt einer der drei an der Teebude herumstehnden Fahrer von vollgebuchten package-touren, die man am weißen Oberhemd erkennt. Tja, wer da selber mit dem Auto hochfährt, hat schon die ganze Verwandtschaft auf dem Rücksitz. Ich hab kurz ein deja vue – mit der netten Familie, die mich seinerzeit auf der Ladefläche ihrer pickups vom Ausflugsirrtum in den Bergen Nordthailands zurück ins Tal nahm, tausche ich heute noch Likes auf Facebook aus. Die drei Fahrer aber stehn nicht mehr nur rum, eine Teelänge und ich sitz in einer Toyota-Limousine, in der sich zwei pensionierte indische Ehepaare aus Pune, Maharashtra, herumchauffieren lassen. Die Männer sind seid 43 Jahren befreudet, solange haben sie beim indischen Fahrzeugkonzern Tata gearbeitet. Bei einem Besuch im Rosengarten machen wir viele Fotos voneinander vor orgiastisch blühenden Dahlien und ich scheitere daran, mir Danke auf Maharathisch zu merken: Dhanyawaadh! Der Weihnachstkaktus heißt hier übrigens Osterkaktus, all unsere Zierpflanzen, Begonien, Fuchsien, Impatiens, Euphorbia, scheinen eh von hier zu kommen. Zum ein paar Kilometer ausserhalb gelegenen Homestay mit unfassbarer Terrassenaussicht auf die Blauen Berge nehm ich igendeinen Bus Richtung stadtauswärts, am Abzweig Second Mile zupfe ich die Kordel an der Busdecke, worauf vorne eine Glocke bimmelt und der Bus anhält. Da wartet der Händler mit den Fruchtschnitzen in den allgegenwärtigen Wegwerfbecherchen am Straßenrand. Jeden Abend betet die christliche Gastfamile lange zusammen, danach bringt der Hausherr mir Abendessen, Reis mit dem allerköstlichsten Curry meines curryreichen Lebens. Bezahlen darf ich dafür nicht, bestimmt seine Frau, die mit Bandscheibe das Sofa hütet. Der einäugige weiße Spitz und der schwarze Wachhund, der auf dem Plastikstuhl vor meiner Tür schlummert, heulen heute zusammen mit den gelbem Streunerhunden den Vollmond an.

Pineapple or Mango?
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Makakattack

Brunnen am Ortsrand von Kumily

Ohne Smartphone wüsste hier keiner, welchen Tag wir haben. Wie gestern, nur andere Gesichter, sagt der Betreiber vom Paradise Inn, er schickt mich zu seinem Brother, der am nächsten Ziel auch eine Herberge betreibt. Früh morgends die Fähre nach Kottayam, Tuktuk zum Busbahnhof, wieder ein Fensterplatz im Rumpelbus, wo es statt Glasfenster blecherne Jalousien zum raufschieben gibt. Fünf Stunden später holt mich der vollbärtige Nazeer in den Kardamombergen von Kumily mit dem Roller ab. Sein Jungle View liegt am Ende einer Gasse, es hat einen tropischen Garten voller Topfpflanzen und Hängematten, Hühner vom Nachbarn laufen herum, Orchideen schlingen sich um die Bäume, es gibt eine offene Küche aus Bambus und Drahtverhau und sechs Zimmer, das schönste nimmt den 2. und ganzen obersten Stock ein und hat eine fast rundumlaufende Terrasse, auf der ich mich wie in einem Luxusbaumhaus fühle. Unten dödelt permanent Rastamusik für die globale Wohlfühlatmo, zu rauchen gibts aber nix. Am Lagerfeuer reicht der 23-jährige Engländer Sam seine Rumflasche herum, weil sharin is ja caring, ne. Der mit schweigsamer Freundin und Klampfe reisende blonde Sonnyboy predigt endlos Lebensweisheiten, die er sich wahrscheinlich schon morgens mit der Zahnpasta ins durchaus entwaffnende Strahlegrinsen geschmiert hat, ein anderer „Traveller“ aus der Schweiz hält mit Indienerkenntnissen auf Lonely Planet-Niveau mit, über so viel naiven Neokolonialismus kann auch die pensionierte Imkerin und Töpferin aus der Provence nur noch den Kopf schütteln. Waren wir etwa auch mal so, als wir jung waren? Makaken turnen in den Bäumen und auf Dächern herum, sie fressen alles, klauen Kekse und Taschen, weshalb man die Zimmertüren zu machen soll, wenn sie zu frech werden, vertreibt Nazeer sie mit der Steinschleuder. Die schwarzen Languren mit weißen Gesichtern und katzenartige (Eich-) Hörnchen mit langem schwarzen Pelzschwanz bemerkt man nur, wenn die Äste schwingen und die tellergroßen Blätter rascheln.

Die Masseuse im Ayurveda-Salon, der sich wie alle hier Klinik nennt, schließt die Augen und faltet die Hände, dann schmiert sie mich von Kopf bis Fuß mit Ölen ein. Sie arbeitet hart, es fühlt sich angenehm an, gefällt mir trotzdem nicht. Draußen in der staubigen Hitze des Samstagnachmittags beschallt ein katholischer Agitator über Lautsprecher das ganze Viertel.Tempelgebimmel und Gospelgesänge mischen sich in eine frenetischen Kakophonie. Überhaupt gibts überall Kirchen, weiß, protzig, riesig, oft mit Schulen verbunden, aufdringlich an Kreuzungen, den besten Plätzen, von allen Hängen herab dominieren sie Land- und Ortschaften, Ebenezer, St. Mary, Joseph und Abel. Rund 20 % der Bevölkerung sind Christen, noch am letzten Marienschrein am Straßenrand gibt es einen Schlitz zum Münzeinwurf für die Erlösungssuchenden, die gut 25% Muslime machen sich morgens noch vor dem Sommenaufgang und zur Abenddämmerung mit ihrem auch nicht gerade zurückhaltenden, weit durch die Täler schallendem Rufgesang bemerkbar. In der Teebude bietet mir Laurens einen Sitzplatz im Hinterzimmer, dann zeigt er Fotos von sich im Schnee, seit zwei Tagen ist er wieder in Kumily, für zwei Monate besucht er seine Familie, Frau und drei kleine Kinder. Den Rest des Jahres fährt er Lastwagen über die Grenze zwischen Kroatien und Serbien. Wie gehts Dir kann er auf Kroatisch. An der bröckelnden Natursteinmauer zum Periyar Tiger Reservat bügelt eine fast zahnlose Frau mit einem archaischen Kohleeisen die Wäsche der Gäste von den Hotels gegenüber. Wieso ist Armut eigentlich pittoresk? Schmieriggraues Abwasser sickert von den teuren Ressort ungeklärt in die riesigen Mikadobündel eines Bambushains. Die Engländer liessen hier 1895 einen Stausee anlegen. Ein Busshuttle führt drei Kilometer durch einen verwunschenen Laubwald bis zum Bootsanleger. Frei herumlaufen dürfen dort nur die Tiere, für Besucher gibt es die Möglichkeit zu geführten Wanderungen auf festen Strecken in kleinen Gruppen, wofür ich leider untauglich bin. Seit vor 15 Jahren eine Fähre kenterte und 45 Ausflügler ertranken, wird jetzt streng kontrolliert, dass jeder eine Schwimmweste umgeschnallt hat, die Plätze sind limitiert. Auf der gemütlichen 90 minütigen Tour sehen wir ein paar gutgetarnte Rehe und Kühe, vielleicht waren es auch Wasserbüffel, fern an den Ufern des Sees. Im vornehmen Eco-Ressort nah am Parkeingang wohnen die Gäste in strohgedeckten Rundhütten aus edlen Naturmaterialien. Sogar die Mülleimer sind aus Holz. Gärtner fegen und hegen unentwegt herum, die Pflanzen haben Namensschilder, am Pool sonnt sich eine verlorene Blondine. Eine offene, holzvertäfelte Naturkundebibliothek zeigt herrliche alte Stiche der lokalen Flora und Fauna. Mit dem Strahl der Arschdusche im Klo könnte man auch die Elefanten im Camp nebenan abspritzen. Warum ich das weiß? Alte Travellerweisheit: Bei akuter Notdurft das vornehmste Hotel in Sichtweite ansteuern und sich, unter soweit noch möglichem Lächeln, vom Pförtner den Weg zum Restaurant weisen lassen. Ich lasse kein leinernes Handtüchlein mitgehen.

Eine bescheidene Variante der allgegenwärtigen Kirchen

Hinter den letzten Häusern grasen Kühe und Hühner picken in Misthaufen herum. Dahinter beginnt der Wald. Nach wenigen hundert Metern schickt mich eine Forstwärterin in Khakiuniform zurück, Betreten (ohne Führung) verboten. Ein paar Einheimische mit Holzbündel auf dem Kopf dürfen den Wald zum Glück nutzen. Eine Weile sitze ich unter einem Baum nicht fern der Kuhlichtung und höre den Vögeln zu, ein Gelber, ein Schwarzer mit orangenem Kragen, ein Eisblauer, einer mit langen Schwanzfedern. Und dann steht da zwischen zwei Bäumen ein Tier, ein Kalb, nein ein Rehbock, ein Sambar gar? Tiere gucken macht schon glücklich. Vor zwei Wochen, erzählt den britische Sonnyboy, sei ein Holzsammler dort von einem Tiger angefallen worden und verblutet. Darauf nehmen wir noch einen geteilten Schluck Rum.

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Wasser und andere Getränke

Heute gibt es den Milchteee im Glas, wieder zwei? Herr Yussuf weiß, wie Kundenbindung geht. Gegenüber im Cafe Paradise serviert Antony den stärksten Kaffee Westindiens. Yussuf trägt einen bodenlanges weißes Tuch mit Goldbordüren als Wickelrock, Antony schwarze Jeans und zwei goldene Ohrringe im linken Ohrläppchen. Der Duft frisch gepresster Zitronen kitzelt in der Nase, sogleich will man in den kleinen Saftladen hinein, zwei scheue Mädchen mit Kopftuch huschen davon. Über einem Wandbild mit zwei schwarzen Flügeln rotiert ein Ventilator. Samir mixt aus Eiswürfeln, Orangen, Karotten und einer erdbeerig schmeckenden roten Frucht einen Drink. Neben einer weißen Moschee mit hellblau gestreiften Minaretten ranken sich Winden und Knöterich einen stockfleckigen Wasserspeicher hinauf. Davor kann man aus chromblitzenden Hähnen Trinkwasser zapfen, der Liter 1 Rupie. Hinter den Bahngleisen liegt eine Irrenanstalt und ein verwaist wirkendes Krankenhaus, in das man nicht müssen möchte. Hinter einem geschmiedeten Torbogen versteckt sich das House of Bishop, die kirchlichen Anwesen in verwilderten Gärten daneben haben schon bessere Tage gesehen. In hohem Bogen führt eine Schnellstraße auf Betonstelzen über die Uferstraße, oben eine Ambulanz mit Blaulicht und Sirenengeheul. Eine Gasse führt zu ein paar ärmlichen Häusern, da wohnen die Fischer und ihre Frauen. Dann das Meer.

Überlebenskampf

Das ist kein Meer zum spielen. Hier herrscht Kampf ums Überleben. Alles hat Hunger. Hunde und Vögel warten auf die Abfälle vom Fang, Männer schleppen triefende Körbe an Stangen über den Schultern, spülen Siebe, Netze, Decken und Matten in der Gischt. Das Silber des Meeres wird Bleigrün, der Himmel Zinn. Es beginnt zu regnen. Junge Liebespaare ziehen sich unter ihren Schirmen an den Palmensaum zurück. Das Wasser ist lauwarm, doch die Brandung gewaltig, sie grollt, die Wellen rumpeln und donnern. Es blitzt aus den Wolken, nun donnert auch der Himmel. Der Regen steigert sich zu einem hysterischen Wutanfall, es schüttet wie aus vollen Eimern. Die Klofrau unter dem wellblechernen Vordach des modernistischen Hygienzentrums (Umkleidekabinen, Duschen, Latrinen, Urinal) weist mir den Stuhl vor dem Männereingang zu, das Dach leckt, aus Pfützen werden Seen, wir schauen und hören dem Trommeln und Wüten schweigend zu, bis sich der Himmel beruhigt. Unter der Hochbahn wartet eine Busladung weißgekleideter Gläubiger auf das Nachlassen des Regengusses. Und siehe da! Es werde Licht, die Zeit ist gekommen, die Dunkelheit hat ein Ende, der Himmel reißt auf! Ein jovialer Erleuchter zeigt begeistert zum Horizont, der sich tatsächlich lichtet, er umarmt mit erhobenen Händen das Universum, und jaa Germany, ja, auch da hätten sie schon viele Anhänger, nun wo ich ja die Zeichen gesehen und die Botschaft empfangen habe, soll ich einfach mal gugln, Beddelhemma, Bethlemamma, leider verstand ich den Namen ihrer heiteren Sekte nicht.

Refugium, Restroom

Über der Kirche von Franz von Assisi segelt eine riesige Fledermaus, oder ist das schon ein Flughund? Auf dem Stadtplan zeigt Gugl drei lizensierte Alkohlverkäufer in Laufnähe meines Gasthauses.

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Wasser sei Dein Name

Kirche und Kormoran (?) im Vorbeifahren

Backwaters gestern. Die Passagierfähre fährt fünf Mal täglich in zweieinhalb Stunden über den See und durch Kanäle nach Kottayam. Invasive afrikanische Wasserlilien mit lila Blüten wuchern auf den Wasserstraßen, seit wann ist sie da, mit welchem Schiff wanderte sie ein? Den Wasservögeln ist das egal, Kormorane und Reiher und graue Schnepfen schaukeln auf den schwappenden Inseln und Teppichen der feisten Pflanze mit ihren Knubbeln und fleischigen Blättern. Zwischen Himmel und Wasser ziehen Palmen Linien in silberne Spiegel, dahinter gelbgrüne Reisfelder, kleine Häuser mit bunter Wäsche und Gipsbalustraden tauchen an den Ufern auf wie Fata Morganas. Empfinden Seevögel manchmal Verlorenheit in diesem Raum ohne Ende? Wie spürt die einheimische Flora ihre Gefährdung, wehrt sie sich, passt sie sich an, macht sie das Beste draus, wie die Vögel, kann sich das System von selbst reparieren, wie lange können Pflanzen einander hassen? Und bekommen unter der grünen Decke die Fische noch Luft? Am Anleger dösen Männer auf Steinbänken, die nächste Bude hat kein Pepsi und Tee gibts noch etwas weiter entfernt, verödete Lagerhallen und sehr viele braune Lastwagen voller Autos, die Mittagshitze steht still, sag jetzt nichts. Frag den Gott der kleinen Dinge von Arundati Roy, der wohnt nicht weit von hier.

Alappuzha heißt Wasser
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Flüchtige Eindrücke

In der „Kuwait Residency“ gibt es auch Rooms to Rent

Gestern Nacht verschwand auf mysteriöse Weise mein endlos langer Blogbeitrag, zuvor wurde dauernd „Automatische Sicherung“ angezeigt, ich kann aber die Ebene nicht finden, wo die Datei gespeichert sein soll. Das ist jetzt also nur ein Test. Vielleicht ist es ja auch eh zuviel mit dem manischen Sammeln und Aufzählen der Eindrücke, dem Verwerten der Welt als Erzählmaterial, macht man sie sich nur zu pittoresken Wunderkammer, indem man sie in ihrem impressionistischen Flimmern festhält, sind es Schnappschüsse zur Erinnerung, ich weiß es nicht.

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Sonntagsessen mit drei Fingern

Außer den Bootstouren durch die Backwaters soll Alappuzha laut Reiseführer keine Sehenswürdigkeiten haben

Überall Tiere. Gelbe Hunde dösen unter Autos, Eichhörnchen turnen auf Tempelbalustraden herum, Vogelschwärme scheißen ganze Uferstreifen voll, ihre Schlafbäume sind weiß verschorft, als hätten sie eine Krankheit, ein gehäuteter Bullenkopf grinst am Straßenrand dekorativ für einen Schlachter. Eine magere Katze schnappt sich zwei silberne Fische, die der Verkäufer ihr hingeworfen hat. Hunde, Krähen, hochstelzende Strandläufer, blasierte Grau- und Silberreiher, und darüber kreisend im rasanten Tiefflug riesige Raubvögel, Milane? Fischbussarde? scharen sich um die grauen Haufen Garnelen und Krebsreste, welche die Fischer als unverkäuflich aussortiert haben und an den Saum des Meeres kippen. Junge Männer werfen sich angezogen in die Brandung, kreischende Buben zerren an der Hand ihrer Väter, Frauen und Mädchen stehen bis zu den Knien in der Gischt, die Saris gerafft, alle Hosen und Kleidersäume sind nass, warm ist das Meer, trübsandig die Wellen, die uns mit sich hinaus ins Offene zerren wollen. Tausende Sonntagsausflügler sind an den kilometerlangen, breiten Strand gekommen, unter Sonnenschirmen werden an improvisierten Ständen Eis und Getränke angeboten begleitet von hellem Glockengebimmel wandert ein Mann auf und ab und trägt einen Stab voller rosafarbener Plastiktütchen mit Zuckerwatte. Scheinbar im Nichts steht ein Torbogen voller rosafarbener Kunstblumen zwischen Strandgut, Müll und getrocknetem Algengestrüpp im heißen Sand, es ist die Fotokulisse für Hochzeitspaare, die im Festsaal eines Strandhotels im Gesträuch dahinter feiern. Weil die Fähre von Alappuzha nach Kollam seit der Flutkatastrophe von 2018 – fast 500 Tote, nichts davon gehört – nicht mehr fährt, laufe ich weiter zum Bahnhof. Die Bahnschranke wird per Hand an einer Winde von einer jungen Frau hochgekurbelt. Am Schalter erklärt mir eine Frau in knallgelbem Sari strahlend, dass ich jeden Tag früh um sechs und Nachts um zwei einen Zug nehmen kann, Fahrkarten gäbs etwa ein Stunde vor der Abfahrt. In einer der Buden am Bahnhofsvorplatz trinke ich zwei Gläser süßen Milchtee.

Sonntagsausflug mit Krähe

Ein Hotel in einem mehrstöckigen gelben Betonbau wirbt mit Zimmern. In den verwinkelten Gassen zwischen den kleinen Häusern herrscht sonntägliche Stille. Nur die allgegenwärtigen Vögel krächzen und zwitschern, einer pfeift sein durchdringendes Uwii, das ich schon aus den Nächten kenne. Soll er von nun an Nachtpfeifer heißen. Unscheinbare Moscheen ohne Minarette zeigen an, dass das eine muslimische Nachbarschaft ist. Die frischen Samosas fetten die Packpapiertüte durch. Ein junger Kerl bäckt auf einer Platte kleine Fladen, in einer Pfanne brutzelt etwas Rotes mit Zweibeln, er reicht mir den Rührlöffel zum probieren, und so kommt es, dass ich mein erstes Mahl mit drei Fingern esse. Waschbecken gibts keines, der Koch trocknet meinen Aluteller mit einem zu Blättern geschnittenen Zeitungspapier ab, es schmeckt scharf und köstlich, eine rohe rote Zwiebelin Scheiben gibts dazu. Ältere Passanten nicken mir belustigt zu. Im Tempel neben meinem Gasthaus werden Trommeln geschlagen, das monotone Klopfen wird unmerklich schneller bis es in einem frenetischen Rasseln kulminiert und verklingt. Es knallt ein paar Mal und Feuerwerksraketen zischen in den Nachthimmel, gehts hier zum Neujahr des Hasen?

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Streunen mit Ziegen

Altes Lagerhaus im jüdischen Viertel Mattancherry

Ach nee, jetzt hab ich ganz brav versucht, bisschen was von der Geschichte Kochis zu berichten, wo ich die letzten Tage herumspaziert bin, der Fährte herumstromernder Ziegen folgend ins ehemals jüdische Viertel, das heute ein pittoreskes Disneyland aus edel verdunkelten Antiquitätenshops in formidabel restaurierten uralten Lagerhäusern ist, mit vornehmen Läden voller Glitzerramsch rund um die wiederum älteste Synagoge Westindiens, die kein Museum sein will, aber durch die Busladungen europäische Bildunsgstouristen in meinem Rentenalter geführt werden, die dabei erfahren, was auch ich im Reiseführer gelesen habe, vielleicht auch von den arabischen Seefahrern von den Küsten Jemens und Omans, die schon vorher da waren und mit Gewürzen handelten, als mit Vasco da Gama die ersten Europäer nach Cochin kamen, der dann seinen dritten Besuch 1524 nicht überlebte, weshalb ein paar Gebeine des martialischen Eroberers noch in der St. Francis Kirche hier begraben sein sollen. Von den portugiesischen Kolonisatoren sind noch die ziemlich zerrütteten Festungsmauern an der Uferpromenade übrig, eine vernachlässigt auf ihrem Posten stehende Kanone und ein paar Herrschaftshäuser und Verwaltungspaläste, in denen jemand abends die Lichter anschaltet, die ansonsten aber nicht recht zu wissen scheinen, was mit ihnen noch werden soll in dieser Gegenwart, es sei denn sie wurden zu noblen Hotel für jene begüterten, also zumeist wieder alten westlichen Touristen umfunktioniert, quasi den Nachkommen ihrer einstigen Erbauer, Schuld, was soll das. Seit 1505 exportierten nach den Arabern dann die Portugiesen von hier aus Kardamon, Zimt und schwarzen Pfeffer, das einstige schwarze Gold, auch die Familiendynastie des jüdischen Händlers und Mafiosis Moraes Zogoiby, der „Moor“ aus Salman Rushdies Roma (Dank dem daran erinnernden Kollegen vom Blog Bücheratlas) machte mit den kostbaren Gewürzen aus den grünen Hügeln Keralas ihr Vermögen. Heute liegen die meisten alten Lagerhäuser brach in der sie bleichenden Sonne, im riesigen Hafen gegenüber ankern nun die grauen Kriegsschiffe der indischen Marine. Die bauen hier, sagt stolz ein älterer Herr mit Hut und deutet hinter sich. Er sitzt neben mir im Schatten eines Unterstands, eine Art archaischer Bushaltestelle aus rostigem Blech und Bruchsteinen, und tippt geschäftig in sein Tablett. Business Surveillance, sagt er, und stellt sich vor als Jayakumar. Auf seinem Handy zeigt er mir Fotos von hunderten verschiedener Ganesh-Figuren, aus Glas, Ebenholz, Halbedelstein, Plastik, er sammelt die Nippesfiguren des elefantenköpfige Gottes, ist sein Hobby. Neben unserem Schattenplatz und der Marinebaustelle liegt das denkmalgerecht renovierte Pepper House, in dem gerade ein Teil der Kochi-Muziris Biennale ausgestellt ist. Malerische Ausblicke aufs Wasser, wie, ach besser als im Arsenale von Venedig, ebenso im Aspinwall House, einer weitläufigen Anlagen eines einstigen britischen Handelsunternehmens aus dem 18. Jahrhundert, weißgetünchte Mauern, schwarzes Edelholzgebälk, wo die Hauptausstellung der Biennale beherbergt wird. Schatten, Bänke, Trinkwasser, gutaussehende junge Menschen. Filme, Fotos, Videos in wohl ventilierten Räumen. Hingebungsvoll umd sehr lange gucke ich das Dokumentarvideo einer Samikünstlerin aus Norwegen an, weite Schneelandschaften, weiße Horizonte, Hungerkrise bei den Rentierherden wegen Klimawandel-Kälte. Die elegischen Filmeinstellungen von armen Dammbauern im Nordsudan bannen mich, Nahaufnahmen schlammig gelber Wasserfluten in Mehrfachprojektionen, auch Bombay in Webcamzooms vom Himmel die Wolkenkratzer hinunter in die Slums zu Filmmusik hält mich gefangen, bevor ich mich wieder in die schwüle Unwirklichkeit der realen Welt draußen wage, in den weiten Hof mit Schaukeln an alten Bäumen und der Bar mit Cappucchino in winzigen Pappbechern. Der jüdische Friedhof ist für Besucher geschlossen, eigentlich alle Friedhöfe bisher, aber was will ich auch auf Friedhöfen, außer Frieden und vielleicht eine Bank im Schatten, wenn es doch den Hocker und Getränke aus der Kühltruhe an der Straßenbude gibt und dazu Fettküchlein und Selfies mit der strahlenden Budenbegreiberin? Und was war mit ach nee? Mein neuer Gasthauswirt im bereits nächsten Ort gab mir soeben einen Whisky aus.

As a bulwark against despair the biennale as commons may seem an impossible idea. But we remember the ability of our species, our communities, to flourish artistically even in fraught and dire situations, with a refusal in the face of disillusionment to disavow our poetry, our languages, our art and music, our optimism and humour. To envision this biennale as a persistent yet unpredictable murmuration in the face of capriciousness and volatility comes from my unshakeable conviction in the power of storytelling as strategy, of the transgressive potency of ink, and transformative fire of satire and humour.

Shubigi Rao aus Singapur, Kuratorin der Kochi-Muziris Biennale
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Rabenkrähen, Kühe auch

Männern beim Arbeiten zuschauen

Schrumpelige Männer rösten frische Erdnüsse und verkaufen sie in Tütchen aus Zeitungspapier für zehn Rupien, Kinder machen Seifenblasen mit dem Wind, die Wägelchen der Eisverkäufer blinken bunt, bei manchen dudelt Musik. An der Strandpromenade im „touristischen“ Fort Kochi, einer dem geschäftigen Ernakulum vorgelagerten Inseln, herrscht zum fahlrosafarbenen Sonnenuntergang Hochbetrieb. Paare gehen vorsichtig über den Saum aus Algen und Müll zum Meeresrand. Ein kleiner Junge quietscht vor Freude, den Vater fest an der Hand, die Füße im Wasser. Verwitterte Tafeln drohen mit hohen Strafen für den Gebrauch von „ungewebten Plastiktüten“, alles, heißt es da, wird videoüberwacht, baden ist verboten. Mit dem Rücken zum Meer sitzt ein Alter vor einer Kiste im Sand und spielt Flöte. Die Sitzbänke aus blankpolierten Steinplatten um jeden dicken alten Baum am Ufer sind in höflichen Abständen besetzt. Stände bieten Parfümöle und geschnitzte Schlüsselanhänger feil, die niemand kaufen will. Familien und Gruppen von Männern flanieren auf und ab, mild ist der Abendwind und alle Mühsal des Tages veweht. Gegen die Krähenhorden, die grazilen Fischreiher und beamtengrauen Vögel, die in irgendwie mißmutig wirkender Reglosigkeit auf Meeresbeute warten, ist die Terrasse des feudalen Kolonialhotels neben dem Fähranlegers mit einem engmaschigen Plastiknetz geschützt. Ein Käfig für die Menschen, wie in manchen umzäunten Safarilodges gegen die umgebenden Wildnis. Ein Tee kostet hier das 15fache wie der Milchkaffee auf der Straße, zehn servile Kellner brauchen eine halbe Stunde, um dafür eine Rechnung auszustellen. Ich lasse ein leinernes Taschentuch aus dem Restroom mitgehen. Der junge Handybudenbetreiber am Kai daneben bedient drei Kunden wie mich gleichzeitig, registriert, fotografiert, scannt unsere Pässe und verkauft und kassiert nebenbei Kabel und Zubehör und Simcards elektronisch. Zwei Monate Telefon und Internet kosten soviel wie der Beuteltee nebenan. Seidenschwarz glänzende Rabenkrähen krächzen in den Bäumen. Wer sie kennt, weicht ihren weißen Kotfkecken aus. Ich lausche ihrem Palaver wie dem lauen Wind und trinke einen Liter Pepsi. Auf den Kaimauern vom Marina Drive von Ernakulum schlafen Männer. Manchmal riecht das Wasser nach Kloake. Wo schlafen die Frauen? War das gerade eine Sternschnuppe?

Strandpromenade in Kochi

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Incredible Ernakulum

Taxi vom Airport

Das Licht, dieses weiße, diesige Licht am frühen Morgen verspricht einen heißen Tag. Bevor ich in mein Hotelzimmer kann, gehe ich eine Runde um den Block. Gleich an der ersten Straßenbude an der Ecke zur tosenden Mahathma Gandhi Road bietet ein Zerzauster mit heuschreckendürren Beinen unterm Lendenschurz mir eine frittierte Banane an, ein Anderer schüttet kunstvoll heißen Milchkaffee in zwei Aluminiumkännchen hin und her. Und noch bevor ich es realisiere, sitze ich im Schatten einer Plane auf einer improvisierten Bank auf dem Bordstein und trinke süßen Kardamonkaffee. Fliegen umschwirren einen Plastikeimer, in einen anderen schüttet der Kaffeemann Wasser aus einer Plastikflasche und spült darin die Gläser. Da geht die Vorsicht dahin und all die Wagenladungenmeiner Ängste versickern mit dem Spülwasser in der Gosse. Ein roter und ein schwarzer Querstrich auf der Stirn weisen den Kaffeemann als Gläubigen aus. Sein Freund Govind hat einen Fleck Goldstaub zwischen den Augen, er zeigt mir Fotos seiner Frau und zweier Töchter auf dem Handy. Am nächsten Tag bleibt die Bude zu, denn Govind geht beten. In einer Markthalle riecht es nach Kübelweise Trockenfischen, ein Bude bietet lokales Kokosöl in Flaschen ohne Etikett feil. Frauen in Saris inspizieren einen Berg aus noch frischen Gemüseabfällen. Ein Torbogen weist den Weg zu einer Synagoge. Käfige voll Kanarienvögel und Regale voller Topfpflanzen säumen die schmale Gasse, an ihrem Ende ein Laden unter hohen Deckenbalken, im Zwielicht winzige bunte Fische in Aquarien. Eine junge Frau kauft einen fingergroßen schwarzen Schleierflossenfisch und hält ihn in einem Plastikbecher gegen das Licht. Der grauhaarige Ladenbesitzer aber ist der letzte Jude der ehemaligen Gemeinde hier im Viertel in Ernakulum. Auf Nachfragen kramt er einen Schlüssel hervor, führt durch einen Lagerraum, und hinter einer schweren Holztür schaltet er die Dutzend Kronleuchter der kleinen Synagoge ein. Er hat ein Büchlein über die letzten Juden von Cochin geschrieben und  erzählt bereitwillig von Massakern, Vetreibungen und Verwüstungen. Ein verblichenes Foto aus 1953 zeigt eine Schar Kinder bei der Bar Mizwa. Es ist noch nicht mal Mittag am Tag meiner Ankunft hier in Kochi.

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Der Kaffee im November

Die Kormorane sind wieder da.Waren sie denn weg? Über ein Jahr habe ich sie nicht mehr gesehen bei den Spaziergängen um die Rummelsburger Bucht. Nun aber sammeln sie sich wieder in der Dämmerung auf ihren struppigen Schlafbäumen auf der Insel, davor hängen sie nebeneinander auf den Baumstämmen am Wasserrand und neu in den Schlick gerammten Holzbarrieren ab. Die lärmigen Bagger und monatelangen Belagerungen durch Lastkähne hielt ich für ihr Verschwinden verantwortlich. Auch die vom Kai vertriebenen Hausboot-Wagenburgen, so argwöhnte ich, würden sie stören. Aber vielleicht mögen die schwarzen Raubvögel ja Techno und Piraten. Nun sind sie jedenfalls wieder da. Wie der auch schon fast verschwunden geglaubte November. Weg war auch ich und wie ich wieder hier bin, sind immer noch die selbem Blätter an der Linde im Hinterhof, etwas blasser und vergilbter vielleicht, aber noch immer hängen sie an den Ästen, als hätte noch kein Novemberwind an ihnen gerüttelt. Ist denn keine Zeit vergangen? Eine Weide wurde gefällt, ein Zaun wurde um ihren Stumpf errichtet, violette Cosmeen blühen, wo zuvor ein Trampelpfad über ein Stück Wiese führte. Herbstzeitlose gabs im August und Brombeeren im Juli. An den Gleisen bei der Warschauer Brücke und dem Baustofflager, wo ich keine Leiche fand. Haben wir nicht gerade noch täglich in Fußgängerzonen Kaffee getrunken? Wurden nicht zwölf Zwiebeln in Suppen geworfen und sieben Kartoffeln geschält, haben wir nicht viele Morgen lang getoastete Brotscheiben mit Butter bestrichen? Wo sind die Tage hin und wohin die Abende? Wir haben doch Kraniche am Himmel gesehen und dieses Blau und wenn wir anhielten, sahen wir die Forellenschwärme im Bach stehen. Wir haben die Weinflaschen im öffentlichen Container entsorgt und den trockenen Kuchen an die Enten im Stadtpark verfüttert, wir haben dem Buckligen und dem grauhaarigen Straßenmusiker unsere Münzen gegeben und doch, nichts, nichts. Wir sind nicht mal älter geworden.

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Stadt im Wind

In die von Öl- und Gasgewinnung nachhaltig versaute Landschaft könnt man auch endlos viele Windräder hinstellen und Sonnenstunden für Solarenergie gäbe es auch ein paar Tausend im Jahr.

Ja, ich war verreist, fünf Tage lang, vom BER Direktflug nach Baku, Aserbaidschan, sehr früh morgens, 5 Euro der Kaffee an der einzig offenen Bude, mein erster Flug seit dem letzten zur „Totenfeier“, damals von Tegel ab und vor Corona, Check-in und Security Ansteherei ganz normal, „Dienstreise“, wahrscheinlich meine letze, embedded all incl., mit Zeit für ein paar Spaziergänge. Die Boulevards riesig, stalinistische Hochhäuser mit 8, 12, 20 Stockwerken, mit verschnörkelten Balkonen und Historismus-Fassaden, große Hotels und teure Modelables, pinkfarbene Fotostudios, in den Souterrains Restaurants, dazwischen Magistralen mit ununterbrochenen Verkehrsströmen auf sechs, acht Fahrspuren, über die man als Fußgänger nicht käme, gäbe es nicht Ampeln und elegante Unterführungen, verkleidet mit Marmor und poliertem Granit. Überall gibt es Bänke, und Springbrunnen, Piktogramme weisen den Weg zu öffentlichen Klos, die Bürgersteige der Fußgängerzone wurden vor 20 Jahren mit schwarz-weißen Mosaikkacheln gepflastert, „Perser-Teppiche“ liegen unter den Cafehaustischen unter Arkaden, alles wirkt überdimensioniert, alles ist blitzsauber und nährt die Illusion, dass die Stadt dem Volk gehört, das sich hier hinsetzen will, Liebespaarfreundlich, antikonsumistisch, volksnah, und eben dermaßen aufgeräumt wie es so meist nur in vollautoritären System vorgeführt wird, vor allem wenn Geld da ist, hier ist viel Geld, Öl und Gas, im Juli hat die EU-Leyen wieder betont, wie gern wir mehr Gas aus Aserbaidschan über die Trans-Adria-Pipeline über Istanbul haben wollen, haufenweise Geld ist auch da für neue Museen und Stadthallen, den Kristallpalast nur für den Eurovisioncontest von 2012, fließender Stahlbeton und Spiegelglas, für futuristische Bauten von Zaha Hadid und anderen Angebernamen, überall schiebt sich der Dubaieffekt in das Panorama mit den Postkartenansichten der verwinkelten Altstadt mit mittelalterlichen Kuppeln und Jungfrauentürmen, die drei gezwirbelten Hochhäuser In Flammenform dominieren das Bild der Moderne, davor diese weiten, offenen, kontrollierbaren, öffentlichen Räume mit standardisierten Kaffeebuden in Form einer roten Coladose – scheinbar die einzige Außenwerbung im Stadtbild – und ab und zu einem alten Kinderkarussell mit Einhörnern, Hubschraubern und Tigern, der Cappuccino drei Euro, niemand kauft einen, die Uferpromenade leer und breit wie eine Landebahn, Bronzestatuen von jugendlichen Skatern, in der Innenstadt gar die eines jungen Mädchens auf Plateausandalen mit Handy am Ohr. Auf dem Kaspischen Meer, das eigentlich ein See ist, spiegelt sich der bleiblaue Himmel in den Regenbogenfarben eines feinen Ölfilms, keine Möwen, keine Fische, keine Angler, städtische Gartenpfleger sammeln Papierfetzen in hellgrüne Plastikschaufeln, Strassenkehrerinnen mit Masken, grünem Overall und Kopftuch fegen eine Pfütze Regenwasser ins Meer, gemähter Rasen, verwaiste Rollerverleihe, eine Zone mit Fitnessgeräten, die Dattelpalmen und krüppeligen Zypressen in den zahlreichen Parks werden gewässert, exotische Bäume haben Namensschilder, in Bahnhofsnähe bieten Frauen auf dem Boden Walnüsse, Granatäpfel, Mandeln und Feigen feil. An den Eingängen eklektizistischer Stadthäuser erinnern Relieftafeln an einst dort wohnende Persönlichkeiten, auf Simsen und poliertem Bordsteinkanten sonnen sich Katzen. Sie sind überall, wie einmal in Istanbul. Die Karawanserei bei der mittelalterlichen Altstadt in mandelfarbenem Sandstein wurde zum Literaturmuseum umfunktioniert und erinnert an die lange Geschichte der persischen Dichter, Nizami forever. Wir aber sind hier hier wegen Essad Bey. Jüdischer Ölmillionärssohn, Flüchtling vor den Bolschewiken, in Berlin zum Islam konvertiert, Meister der Identitätswechsler, Kaffeehausliterat, Schriftsteller, Selbsterfinder. Davon später mal.

Development Area, Baku
Hier wird nichts entwickelt, den Müll sammelt auch niemand ein. Besiedlung um Baku herum

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Contemporary art has become outdated

documenta fifteen

Weg zum Hallenbad, wo das durch Antisemitismusvorwürfe in die Nachrichten gekommene indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi seine riesigen comicartigen Agitprop-Kunstwerke zeigt. Vor einem Holzpavillon mit Bänken drin wurde ein Blauglockenbaum gepflanzt, der schon zehn Meter hoch ist.

Viele Stühle, wenig Bilder. In einem Kubus aus Kohlebriketts und Bambuspflanzen auf der verdorrten Wiese vor der Documenta Halle stehen drei schwarze Hocker zum ausruhen und besinnen. Er ist einer der zahlreichen „Rast- und Reflexionspunkte“ der documenta 15. Auf einer Brachfläche vor der verfallenden Haferkakaofabrik und dem Hostel Sandershaus könnte man auf einer Lagerstatt in einem Zelt aus Vorhanggaze ein Schläfchen halten, sich in einem Gewächshaus Tomaten holen, in einem der Bretterbudenzelte einen Tee kochen, ältere Damen huschen herum und spülen zusammengesammelte Tassen, in einem weiteren der temporären Versammlungsorte schart ein junger Mann mit Dutt eine Gruppe um sich und fragt nach deren Lebenswünschen. Hinter dem informellen Camp steht die Initiative des kambodschanischen SaSa Kollektivs für ein alternatives Kunst-Ekosistem und argentinische Queer-Serigrafistas wirken auch irgendwie an diesem freundlichen Lager-Außenposten mit. Überhaupt, Null von der allorten sonst so angesagten Kunst zu gender, queer, trans, oder ethnischen Identitätskrisen, (Klos für alle), keine Viktimisierungsdarstellungen, auffällig das Fehlen jeglicher künstlerischer Egos, Individualkünstler, Names, Stars, dafür über 1500 Beteiligte, namentlich aufgelistet je Projekt in bescheidener Schreibmaschinentypographie auf den Labels auf grauen Recyclingpapier. All das ist so entscheidend anders zu allen bisherigen Großausstellungen, dass es kaum verwundert, dass die meisten Vertreter des herkömmlichen Kunstbetriebs ziemlich ratlos und sogar beleidigt sind. Denn sie und ihre Netzwerke der Macht werden hier mit einer fulminanten Fülle und Power neuer Kunst-Geschichten überflüssig gemacht. Die meisten der ausgestellten Projekte haben völlig andere Anliegen, als verkauft oder gesammelt zu werden oder in einem Museum zu landen. Sie sind nicht primär vermarktbar, sie existieren ohne Kurator, Galerist, Kunstinstitution, auch ohne d15, sie berichten mit allen ihnen verfügbaren Medien von Missständen, sie erzählen, teilweise äußerst poetisch, von Gewalt, Hunger, Elend, kaputter Umwelt, sie wollen wirken, informieren, aufrütteln, vielleicht gar Hoffnung machen, Horizonte aufzeigen, verändern. Bis auf weniges, etwa die Briccollage-Skulpturen der haitianischen Gruppe Atis Rezistans/Ghetto Biennale in der zur“Vodookirche“ umgestalteten katholischen St. Kunigundis -die, ha, keine Kirchenbänke mehr hat – sind die meisten Ausstellungsprojekte keine Objekte, die ohne ihren Kontext funktionierten. Deshalb vielleicht gibt es so wenige „dekorative“ Fotos von der d15. Bilder und dokumentarische Fotos selbst sind auch wenig vertreten, das dokumentarische Abbild ist schwach, es scheint seine Kraft verloren zu haben angesichts der allerorten abgebildeten Grausamkeiten der Welt. Wie soll ich ein Bild von den Auswirkung der Klimakrise machen, fragte sich ein afrikanischer Fotograf. Zeigt das wohl komponierte Schwarzweiß-Foto von endlosen Reihen verdorrten Kürbisse auf einem Feld denn die globalen Ursachen? Sieht man den im Sonnenlicht tanzenden blauen Wellen des Atlantiks an, dass der saisonale Fischzug der Sardinen darunter seit Jahren weniger wird oder ganz ausgeblieben ist? Erzählen die pittoresk verrottenden Boote am Ufer denn vom Hunger der arbeitslosen Fischer oder dem Sterben ihrer übers Meer flüchtenden Söhne?

Das Kollektiv von Siwa Platforme – L’Economat at Redeyef aus Tunesien erzählt in einer raumgreifenden Ensemble aus Texten, Tönen, Filmen, Zeichnungen, Objekten, Teeküche und Nischen zum Sitzen von einem lebensfeindlichen Environment: In Redeyef wird Phosphat abgebaut, die jungen Männer „brennen“ für Europa.

Res publica: Überall aber in den Ausstellungshallen und oft als Teil der Kunstinstallationen gibt es Sessel und Sofas, Stühle, Holzpodeste, Gartenbänke, Kissen, Teppiche, Hocker aus Getränkekästen, alle erdenklichen Arten von Sitzgelegenheiten. Sie sind höchstwillkommen, nicht nur bei den vielen grauhaarigen und gebrechlichen Besucherinnen, um all die Geschichten und Informationen in Form von Texten, Schriften, Bildern, Zeichen, Zeichnungen, Parolen, Fotos, Videos, Tönen, Stimmen, Klängen, auf sich einwirken zu lassen (die Teppiche gehören derJugend), aber sie sind auch Zeichen für Res publica, oder den Meydan, wie der öffentliche Platz auf auf Arabisch, Udo, Farsi heißt, für eine „Besetzung“ von öffentlichem Raum und für eine altmodische Kunstauffassung, die mit Muße, Beschaulichkeit, mit sich Einlassen und Zuhören zu tun hat. Schon draußen vor dem Fridericianum agitiert Richard Bell, ein australischer Künstler (einer der wenigen, der auch konventionelle Bilder malt) mit einem Film in einem Zelt für die Rechte der von den weißen Kolonisatoren um ihr Land betrogenen Aborigines: We wuz robbed! Daneben fragt sich ein junger Mann vor Publikum, wieviele Lebewesen es wohl unter unseren Füßen gibt. Die Kassler Erde ist Savanne, eine Roma-Frau in samtroter Tracht bettelt alle Tage lang bei den Besuchern auf den Stufen zum Eingang und nutzt das Wort Ukraina. Ein Banner an der Fassade bekundet Solidarität. Wovon aber erzählen nun die ausgestellten Werke oder Projekte? Wenn man erstmal das etwas furchterregend kinderladenartige Aktivistencamp mit Zetteln, Buntstiften und allerlei Mitspielzeugs hinter sich gelassen hat, wird man in eine bizarr schillernde Fluchtgeschichte gesogen. Riesige Wandteppichen erzählen in märchenhaft naiver, figurativer Formensprache von einem seltsam verfremdeten Auszug aus Ägypten. Da lagern die Exilanten in kostbaren Gewändern aus Stofffetzen wie bei Klimt an einem Fluss mit Spitzengischt, sie schlachten Viehcher, rupfen Hühner und spielen Karten. Mit ihrer Patschworkcollage zitiert, ironisiert und wendet die polnische Romakünstlerin Stereotype und Zigani-Klischees zu einen neuen „Narrativ“ um, ein zauberhaftes Beispiel explizit kultureller Aneignung und Umdeutung von Fremdbildern. Kitschig, rassistisch und frauenfeindlich könnte man – also zB ich mit meinem traditionellen Kunstverständnis – die riesigen Gemälde eines ungarischen Roma-Malers finden, in denen feurige Pferdemänner mit nackten Hexen um irgendeinen Schöpfungsmythos ringen, wenngleich es sich dabei, wie im Erklärtext der Off-Biennale Budapest erläutert, als historischer Beitrag und Würdigung eines zeitlebens unerkannten, genialischen Außenseiterkünstlers entpuppt.

Schöne Kunst! Wandteppich der Serie „Auszug aus Ägypten“ von Magorzata Miria-Tas. Aus „Once Day We Will Celebrate Again“ des RomaMoMa Projekts (Konzeption eines Roma-Kunst Museums) der Off Biennale Budapest auf der d15.

Subversive Archive, unfassbar viele Archive haben die d15 Macher von Ruangrupa auf der ganzen Welt gefunden und eingeladen, von der Sammlung des Roma-MoMa Manifests zur südafrikanischen Keleketla! Library, vom Archives de luttes des femmes en Algérie zum Asia Arts Archive aus Hongkong, von der Erforschung des ersten, vom britischen Missionar Moffat erstellten Lexikons der Sesotho Sprache und der Erfindung zeitgemäße Wörter dazu beim Another Roadmap Africa Cluster, von den Recherchen zu digitaler Vernetzung des Jatiwanghi Art Factory mit ambitionierte jungen Frauen aus Seoul bis zu vergilbten, in Vitrinen liegenden Büchern und Pamphleten aus dem Black Live Archive London, darin nachträglich, heute, das N*Wort zensiert, was von Besuchern mit Kugelschreibern kritisiert wird. In einem Sperrholz-Kinosaal laufen die 1967-82 aus Beirut nach Japan geschickten und in Tokio jahrzehntelang geheim aufbewahrten Filme aus der palästinensischen Widerstandsbewegung in der Sammlung von Subversive Films, was zu einem weitern Antisemitismuseklat führte, in einer intimen Kammer flackern neongrünen Kriegsaufnahmen in fünf Kurzfilmen aus Bagdad, glitzernde Portraitcollagen erinnern an die Fotos Ermordeter im Foltergefängnis von Phnom Penh, in einem Comicbuch erzählt der kambodschanische Vannak Anan Prum (er ist auf Twitter!) von seiner modernen Versklavung auf einem thailändischen Fischfangkutter, philippinische Arme warten schicksalsergeben auf einer riesigen 5-Kanal-Video-Projektionsleinwand auf die Verteilung von Reis. Kannst Du noch? Willst Du noch mehr? Die Vorräte aus einer Welt der Ungerechtikeiten, Zerstörungen, menschlicher Not und trotziger Kreativität scheinen unerschöpflich auf der d15. Das Motiv des Archivs als Sammlung von Erinnerungen, als Wissensspeicher kollektiver Erfahrungen von Elend, Hunger, Diktatur, Gewalt, Widerstand und somit möglicher Ausgangspunkt einer Zukunftsermächtigung eröffnet eine überwältigende Fülle von Geschichten und, ja Gefühlen. Während wir auf Kissen und bunten Webteppichen lümmeln, erliegen wir mit den traditionellen Gesängen eines alten Mannes zu Panoramabildern der weiten Landschaft der Rojava im Norden Syriens folkloristischer Nostalgie, nur um einen Saal weiter in der großräumigen Installation von Siwa platform – L’Economat at Redeyef gänzlich mutlos auf einem Sperrmüllsofa niederzusinken, zu elegischen Filmbildern der schweflig vergifteten Phosphat-Abbau-Region im tunesischen Gafsa Gebirge blicklos auf alte Koffer und Transistorradios und leere Teegläschen zu starren und poetische Sätze von Flucht und Reichtum und Tod über die Wände laufen zu sehen, Gemurmel, von jungen Männern, die für Europa „brennen“ und auf ihrer Flucht vielleicht ertrinken. Ist das überhaupt Kunst, ist das gut, ist die Übersetzung von Inhalt in Form gelungen? Gibt es heute, bei nüchterner Wahrnehmung des Weltzustands, überhaupt noch aktuelle Kunst von Bedeutung (für wen?), wenn sie nicht aktivistisch, politisch, sozial engagiert, humanistisch ist? Anklagend, kämpferisch, wütend, traurig, wenigstens aber erhellend?

(Aber wie soll die Dunkelheit erhellt werden, wenn wir nicht brennen… Nazim Hikmet)

Gefährlich? Parolenpappfiguren vom indonesischen Künstlerkollektiv Taring Padi mit Besuchern an freien „Rast- und Reflexionspunkten“

Documenta 15, Kassel, geht noch bis 25.9.22.

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Hausbesuch

Ihre Schuhe wurden nass und hinter Apfelbäumen lag der Scheurachshof. (Hermann Lenz)

Schachbrettfalter stehen auf Lila von Skabiosen, Kratzdisteln und Flockenblumen.

Wenn Schmetterlinge die erlösten Gedanken der heiligen Toten sind, wie Handke den Dichter Christian Wagner zitiert, dann schwirren hier ganz schön viele Gedanken eines Jungen herum, der einmals die Schule schwänzte, um mit dem Freund in der Bahnhofswirtschaft Schach zu spielen. Dann zog er in den Krieg und wurde verwundet, gründete eine Familie, kaufte ein Haus und brachte uns das Spielen bei. Das Haus haben wir nach dem Tod der Eltern verkauft, ich wohne für zwei Nächte im Hotel am Schlossplatz. Es gehört dem Schraubenwürth, bei dem wir als Kinder im Akkord Schrauben in Schächtelchen sortiert haben. Der Dichter Christian Wagner, ein Bauer aus Warmbronn, kehrte öfters in die Wirtschaft „Zum goldenen Hasen“ von Julius Krumm ein. Der ist der Großvater von Eugen Rapp, dem Alter Ego von Hermann Lenz, der in seinem Roman „Verlassene Zimmer“ davon erzählt. Der Schachbrettfalter aber sitzt vornehmlich auf lilafarbenen Blüten. Skabiose, Kratzdistel und Flockenblume blühen in den Magerwiesen, an den Hängen zum Kochertal hinunter hängen alte Kirschbäume voller Kirschen. 

Der alte Klebweg (Kleb, hohenlohisch für Kliff) ist seit 2019 wieder begehbar, dank der sponsorischen Initiative von ein paar lokalen Unternehmern. Hermann Lenz, 1913-98, ging den Weg mit seiner Oma zum Milchholen im Scheurachshof (sie bekamen dann keine). „Auf dem Weg waren Pfützen, dicht neben dem Schilf, und Abendschatten mischten sich mit schieferfarbener Luft … Sie gingen weiter; die rinnenden Wasserfäden spielten, der Weg wurde schmal und hatte Farne; ihre Schuhe wurden nass und hinter Apfelbäumen lag der Scheurachshof.“ Nie zuvor hab ich den Heimatdichter gelesen, plötzlich klingt er wie TSE. „Runzlige Schuhe, der Weg älter als du, und du gehst als wärest du jung…“ steht auf einer Tafel am restaurierten Pfad. Lenz verbrachte in Künzelsau seine ersten zehn Jahre, seit dem die Stadt touristisch pittoresk wurde, gibt es überall Tafeln zur Stadtgeschichte. Die Ganerben auf dem Wappen sind die gleichen geblieben. Handke schreibt 1973, er empfinde beim Lesen Lenzscher Bücher Glück, er schreibt ihm, die „Nebendraußensteher“ wechseln daraufhin 25 Jahre lang Briefe. Die merkwürdig unterhaltsam sind. Handke legt sich ins Gras und „atmete wieder den Wind der Gegenwart.“ So stehts im „Journal der zweckfreier Wahrnehmungen: Das Gewicht der Welt.“

Der Wein wuchert in den Flieder, die Rosen wachsen in den Apfelbaum. Warum wachsen die alle so irre? Todesblüte oder der normale Sommerwahnsinn? Kein Mond. Keine Geräusche. Dann der Waldkauz mit seinem Uhuhu. Es sind 37 Grad, meine Schuhe sind aus neuem Leder, im Uferschilf düsen Bodenbrüter herum, ich schwimme im grünen Wasser mit den Fischen, blasiert wischt ein Fischreiher vorüber, in der Wiese hockt ein junger Grünspecht. Kindheitsflash, das peinlichste Anzeichen infantiler Vergreisung.?

  • Peter Handke: Die Lehre des Sainte-Victoire, 1980, st1070,
  • Das Gewicht der Welt, 1977, st500,
  • Briefwechsel Handke – Lenz, Berichterstatter des Tages, Insel, 2006,
  • Hermann Lenz: Verlassene Zimmer, 1966, st4376
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Summer surprised us…

(…coming over the Starnbergersee With a shower of rain; we stopped in the colonnade, And went on in sunlight, into the Hofgarten. And drank coffee, and talked for an hour. TS Eliot, The Waste Land)

I bins in Binz

Stein, Wasser, Salz. Tang, Möwen, Rauschen, Wind, Meeresgeruch. Alte Menschen bücken sich am Ufersaum und sammeln einzelne Muscheln ein. Am Meer sind wir Kinder, es glitzert im Algenhaar auf umspülten Steinen. Hat noch jemand früher Grasbüschel gekämmt? The structure of things, Salz auf meiner Haut, die Sätze sind alle geschrieben, die abstrakten Muster im Sand fotografiert, Schule der Elemente und des Elementaren. Wir sind hier, I bins in Binz. (Spontantourismus vor dem 9-Euro-Ticket.) Beim Gang über den Klippenpfad bin ich vom Gegenlicht in den pistazieneisgrünen Buchenblattkospen bezaubert. Steh wie ein Gartenzweg im Wald und bin sinnlos davon überzeugt, mein Vater hätte das Pathos dieses Moments verstanden. Ist es Chemie, die Ausschüttung der Eudorphine? Ein Teppich aus Anemonen bedeckt den Waldboden, ein Rehbock bellt, Rentner in bunten Windjacken überholen mich, ihre Stöcke ziehen flüchtige Kommas in den Sand. Wir lagern auf Kissen aus Moos. Sehnsucht kommt erst beim scheiternden Versuch, das Erinnerte auszudrücken, andere haben Worte und Bilder gefunden. Handke: „der Himmel (wie Stifter in seinen Erzählungen noch so ruhig hinsetzen konnte) war blau.“

Prora, KdF

Vergrößert eine Zeitlupe die Zeit? „Das Betriebsgeräusch der Seele“ (Selge, Capus, u.a.) stottert im Leerlauf wie ein kaputter Anlasser, den der Star mit seinem Schnarren imitiert. 

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Wieder April

Bauzaun an der Rummelsburger Bucht

Der Wind ist kalt. Die Kormorane sind weg. Auf den Bänken an der Uferpromenade halten die Leute ihr Gesicht in die Sonne, ältere Männer angeln, manche trinken zusammen Bier. In der Dämmerung bekommt der Himmel das Porzellanlau von Unendlichkeit, die Transparenz wirkt pastos, als könne sie dich wegtragen. Flügel, Worte, Befindlichkeit, Wetterphänomene erscheinen so unangemessen wie Werbung für selbstaufrollende Gartenschläuche. Nachts ist der Teich noch gefroren. Wir pflanzen Lilien, wir pflanzen Chili.

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Von Wegen

Kormorane auf der Insel, Spree, Rummelsburger Bucht, Heizlraftwerk

Die Vogelgrippe hat die erste Möwe in der Bucht erwischt. Möwengeschrei erzeugt sofortige Sehnsucht. Wenn ich mich auf dem matschigen Uferweg an der Stralauer Halbinsel mit dem Gesicht in den Wind stelle und die Augen etwas zukneife, wird die Spree zur Themsemündung, die Stadt hinter der Elsenbrücke zum Ozean. Und was, wenn die Spree das Meer wäre? In der Dämmerung sammeln sich die Möwen auf Bootsdächern, Anlegestegen und dem dicken Schlauch, der sich quer über die Bucht zieht. Zur Sanierung des Gewässers von schwermetallhaltigem Schlamm wurden alle Schiffe, Boote, schwimmende Hütten und Cluster aus Flößen mit Hexenhäusern aus Gerümpel aufs Wasser verscheucht, eine Monsterramme hat Eisenwände in den Grund gestampft, die Böschung verblockt, der Randstreifen mit Sand aufgeschüttet. Enten, Blesshühner und Schwäne sind damit ebenso wie die Boote vom Uferanlegen vertrieben, erst halbe Kilometer weiter gibt es ein Stück mit Bäumen, Gesträuch und Schilf, in dem sie aus dem Wasser heraus und brüten könnten. Wo vor einem Jahr das große Obdachlosencamp geräumt wurde, stehen nun Kräne im Flutlicht für die Baustelle der „Coral World“, einem „Aquarium“, dessen Eintrittspreise nur Touristen zahlen werden. Hinter der Bretterwand zum geschlossenen Club „Rummels Bucht“ lodern hohe Feuer, die ehemaligen Betreiber demontieren und fackeln die Reste des einst schönsten Biergartens ab. Auf dem ehemaligen „Wider Strand“ daneben wächst bis zumIUferweg ein Investmentprojektklotz mit dem euphemistischen Namen „MyBay“ (84qm ab 897.000, Penthouse 3,1 Mio). Wer soll dort wohnen? Das ist nicht die Villa in Dahlem, that’s Lichtenberg Baby, eine sechsspurige Ausfallstraße und das Dreieck aus einem Strang Bahngleisen, der Ringbahn-Trasse und die Verkehrsader nach Treptow sorgen für beständiges urbanes Rauschen. Und wenn diese SPD-Bürgermeisterin länger das Sagen haben sollte, gibts da demnächst noch einen schicken Autobahnzubringer. Der Supermarkt an der Ecke ist schon länger dicht, stattdessen hat dort ein Lieferservice mit pinkfarben kostümierten Radsklaven sein Lager eröffnet. Ach, lest das Ganze besser gleich bei Karlapappel.wordpress.com nach. (https://karlapappel.wordpress.com/2021/03/10/jungerer-geschichte-der-rummelsburger-bucht-und-des-widerstandes)

Wedding, Schienenersatzverkehr, Müllerstraße

NO COMMENT: Und weil alles so toll ist hier gleich noch das link zu einer aufschlussreichen Liste des Antisemsmitismusbeauftragten des Berliner Senats. https://www.berlin.de/sen/lads/schwerpunkte/rechtsextremismus-rassismus-antisemitismus/ansprechpartner-fuer-antisemitismus/?bezuggrd=LEU&utm_source=leute-lichtenberg Von 10.000 untersuchten Straßennamen wurden 290 zur Umbenennung vorgeschlagen, wenigstens aber zur „Kontextualisierung“, also mit Warnschild zum Antisemitismus des Namentlichen zu versehen. Darunter, jetzt nur mal so auf die Schnelle die Kulturschaffenden, natürlich Richard Wagner samt Lohengrin, Tannhäuser, Rienzi und Walküre. Aber auch Brentano, Wolfgang Borchert, Jules Verne Jean Sibelius, Schopenhauer, Thomas Mann, Wilhelm Raabe…Also mal der Reihe nach: Byron (Lord George Gordon Byron 1788-1824). Goethe, Herder, Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798- 1874, Deutschlandlied), Rudyard Kipling (1865-1936), Kant (1924-1804), Pestalozzi (1746-1827), Fritz Reuter (1810-1874),Richard Georg Strauss (1864-1949), Johann Michael Friedrich Rückert (1788- 1866), Karl Friedrich Schinkel (1781-1841),   Carl Friedrich Goerdeler (1884-1945, Mitglied im Widerstand 20.Juni 44). Das war nur Charlottenburg, weiter gehts in Friedrichshain/Kreuzberg mit u.a. Ernst Moritz Arndt (1769-1860) Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), schon wieder Fontane, Franz Mehring (1846-1919), Jacob Grimm (1785-1863) und Wilhelm Carl Grimm (1786-1859), Ludwig Jahn (1778- 1852), Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher (1768-1834). (Junker Jörg) Martin Luther (1483-1546). Marzahn hat auch was zu bieten mit Philipp Melanchthon (1497- 1560, der sich ja für Juden einsetzte, ebenso Peter Rosegger (1843-1918), August Strindberg (1849- 1912). In Mitte: Neben den Gebrüdern Grimm auch Arnold Wilhelm von Bode (1845- 1929), Johannes Calvin (1509-1564) Erasmus von Rotterdam, Desiderius (1466-1469) Michail Glinka (1804-1857), Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) Olof Palme (1927- 1986). Claus Philipp Maria Graf Schenk von Stauffenberg (1907-1944). Voltaire (1694-1778) Ulrich Zwingli (1484-1531). Eine Freundin bangt um ihren kleinen Job als Aushilfskarteikartenverwalterin in einer Schulbibliothek, weil der Berliner Senat die Gelder kürzen will.  

Yorckbrücken

GESLESEN: Zum Glück gabs wieder Bücher, drei aus der Stadtbibliothek:

Helon Habila, Reisen, Übers. Susanne Urban, Das Wunderhorn, Heidelberg 2019.  Der nigerianische Schriftsteller (sein erster Roman „Öl auf Wasser“ spielte im Nigerdelta mit magischen Alptraumsequenzen) wohnte als Daad-Gast ein Jahr in Berlin und trifft dabei auf afrikanische Migranten, Illegale, Flüchtlinge, Überlebende, Gestrandete, Dealer, Türsteher, Verlorene aller Arten. „Erfundene Geschichten sind die Währung unter den Heimatlosen und Entwurzelten“. Wie vom Wind herumgewehtes Papier auf leeren Plätzen…verliert der Ich-Erzähler sich selbst in einer besetzten oder verlassenen Kirche in Kreuzberg, einer angedeuteten Liebe, einer freunden Identität, in einem Abschiebelager…Adorno als Motto: „Es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.“

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen, Hanser, 2018. Und wieder, so eine unheilbar unendliche Traurigkeit. Und wieder eine somnambule und doch gänzlich unromantische Odyssee bis ans Ende aller Tage. Roadnovel von der Zeche im Ruhrpott, wo der Vater, polnischer Gastarbeiter, am Krupphusten zerbröselte, und der italienische Onkel den Brieftauben das „Heimfindevermögen“ lehrte, immer weg, immer weiter, zu den Bohrinseln des globalen Kapitals, in dessen schwarzen Wassern alle Liebe ertrinkt. Zurück nach Osteuropa, zu den verlassenen Häusern und Frauen. Unsounded Areas, das sind die weißen Stellen auf den Meereskarten, so tief, dass kein Echo bisher ihren Grund ausloten konnte. „Die Städte waren schnell und einsam. niemand fragte danach.“ Immer weg, immer weiter. „Alles, was ich nicht mehr bin.“

Markus Ostermann: Der Sandler, Osburg, 2020. Noch ein Debüt. In der Bahnhofsmission Münchens, wo der Autor seinen Zivildienst leistete, ist Karl Maurer Stammgast. Den ehemaligen Mathelehrer hat es wie die übrigen auf der Straße gelandeten OfWs (Ohne festen Wohnsitz, das ist das Passeintragsküfrzel) durch ein Unglück aus der Bahn geworfen, jetzt säuft er, um zu vergessen und um das Elend, die Kälte, die Demütigung, das ganze beschissene Restleben auszuhalten. Da ist der poetische Rebell Lenz, der es nicht schafft, die trotzige Frau mit der geschorenen Glatze, die bespuckte Bettlerin aus den Karpaten, die krakeelende Alte, der manische Zeitungssammler, der irre Künstler, der Verfolgte, der Angeber, der nervige Antatscher, der gewalttätige Schläger und Exknacki.. Ganz nah dran, in kitschresistentem Realismus begleitet der Autor in diesem erstaunlichen Debütroman das ganze Pandämonium der Obdachlosen und Gestrandeten, freiwilligen Randexistenzen und Vagabunden.

Und Yesss: Michel Houellebecq, Vernichten, Dumont 2022. Sehr lustig, wie immer schlau, gesellschaftsklug, lebensklug, prägnant fies. Und wenns ans Sterben geht dann doch auch gefühlsecht romantisch. Kein Muss, aber auch keine verblödende Zeiltverschwenung: literarische Unterhaltung vom Feinsten.

Mach die Türen zu, dreh die Heizung auf, schenk Wein oder Tee nach, lies und sei woanders ein anderer. Und wenn du rausgehst in die unwirtliche Stadt, schau hin, hör zu, frag nach, geb Geld.

Vorherige Buchliste nebenan auf Spätlese https://vogelsspaetlese.wordpress.com

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Deine schönen Augen

Im Park liegt noch Schnee. Zwei rauchende Jugendliche stehen mit Bierflaschen an einer Tischtennisplatte herum. Vereinzelte Spaziergänger führen kleine Hunde aus. Die Sportplätze liegen ausgestorben im Dunkeln. Keine Jogger, keine telefonierenden Kinderwagenschieber, niemand, der laut in sein unsichtbares Headset spricht. Von den abertausenden Bewohnern der Plattenbauten ringsum mit 12, 20, teils 25 Stockwerken scheint keiner das Bedürfnis nach körperlicher Ertüchtigung und Selbstoptimierung zuhaben. Wir sind in Lichtenberg, hier gibt es keine bodentiefen Fenster. Es gibt auch keine Läden, keine Apotheken, Friseure, Bäckereien, Pizzerias oder Spätis, es gibt nichts, nur die Hochhausriegel und die schmale Grünanlage dazwischen. Die nächsten Billig-Discounter finden sich fern an den Kreuzungen der Ausfallstraßen und Straßenbahnlinien. In fast allen Wohnungen brennt Licht, auf Balkonen Lichterketten. Dünnes Eis auf dem Wasser. Im Park um den Fennpfuhl sind Skulpturen verteilt, eine hockende Frauenfigur aus Sandstein hat wurstpralle Arme um die dicken Beinstampferchen gefaltet, die grobe Patschhand größer als ihr Gesicht, der Kopf einer Liegenden aus Bronze würde fünf mal in das Volumen ihres tonnenförmigen Beckens und ihrer elefantösen Oberschenkel passen. Männerfantasie-Frauenbilder, DDR-Kunst aus 1975 und 1987. Vom Ufer des kleinen Sees klingt orientalisch angehauchte Technomusik, eine größere Gruppe feiert Party, auf dem Uferweg tanzen ein paar Männer umeinander, sie lächeln, eine süße Glühweinfahne weht mich an.

Das Gesicht fast verborgen zwischen Mütze und Schal sitzt sie auf einer Parkbank an der Frankfurter Alle. Wie Schutzwälle sind vier dick bepackte Plastiktaschen um sie platziert. Ihr Hab und Gut. Auf mein leises Hallo kommen zwei wache Augen und von der Kälte rote Bäckchen zum Vorschein. In zwei Stunden erst wird sie in die silberfarbene Traglufthalle, die „Halleluja“, hinterm Einkaufszentrum eingelassen. Und noch bevor die Sonne aufgeht muss sie wie die anderen etwa 80 Gäste der Notunterkunft wieder in die kalte Welt hinaus. Vor einem Jahr, erzählt sie, ist ihr Mann gestorben. Herzinfarkt, immerzu gearbeitet. War Geschäftsführer, hat Leute eingestellt, viel verdient, auch Schwarzgeld, ja, reich waren sie. Manchmal träumt sie von ihm, vor ein paar Tagen erst wachte sie auf, da strich er ihr ganz sanft über die Wange. Von der Versicherung bekam sie 80 Tausend, einen Mercedes wollte sie sich kaufen, zum Glück hat sie’s nicht getan, der wär ja irgendwann kaputt gewesen. Nein, sie hat sich stattdessen ein Grundstück gekauft, in Ostpommern, direkt am Meer, stundenlang kann sie am Strand auf und ab spazieren gehen, da will sie ein Haus drauf bauen mit einer Wirtschaft, gebratene Fische verkaufen, das mögen die Touristen, dann hat sie ein gutes Einkommen. Ihre Augen leuchten auf wie die Flämmchen des dazu erträumten offenen Grills. Gekocht hat sie immer gern, manchmal hat Oskar die Kartoffeln geschält oder Gemüse geschnibbelt, manchmal gabs zum Frühstück Rührei mit Tomaten. Versonnen reibt sie sich die eiskalten Finger. Ihre Haut ist empfindlich, sie hat Seife aus der Apotheke, für 4 Euro 20, die muss sie verstecken, damit ihr die keiner klaut in der Nacht. Sie ist eigentlich nur hier in Berlin, um sich um die Witwenrente zu kümmern, 1456 Euro!, aber die Handtasche mit dem Ausweis wurde ihr gestohlen. Ob die Traurigkeit über den Tod des Mannes mal nachlässt? Nach drei Jahren, hat sie gehört, soll es besser werden. Ich hab keine Kinder, und Du? Vielleicht ist das besser, stell Dir vor, dauernd Mama, ich will ein Handy, ich will ein Auto, krakeelt sie mit verstellter Stimme. Männer besser auch keine mehr, die, die wir abkriegen würden, wären nur alt und kaputt. Wir lachen, sagen uns unsere Namen, sagen uns Komplimente, Deine schönen Augen, noch niemand hat mit mir gesprochen heute, mit mir auch nicht, Tränen steigen in ihre Augen, ich muss los. Unter der Eisenbahnbrücke bettet sich eine Frau in ein Knäuel aus Decken, sie dreht sich eine Zigarette. Ein Stück weiter steht eine Tüte mit aussortiertem Christbaumschmuck auf dem Boden. Ich nehme drei goldene Kugeln.

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As time goes by

Strandbad Rahmer See bei Wandlitz

Der See spiegelt die silbergraue Wolkendecke, ein einziger Mensch angelt in einem reglos dümpelnden Ruderboot, kein Lufthauch, kein Vogelruf durchkreuzt die Stille, nass liegt die noch grüne Wiese am Strandbad, das Sommermobiliar verräumt hinter verriegelten Holztoren. Die Straße endet an einer Baustellenabsperrung, bei den der Ortschaft vorgelagerten Supermärkten esse ich eine Bratwurst, der Stehtisch aus einem Plastikfass neben dem Parkplatz. Aus einer Brombeerhecke am Feldrain duftet es betörend heraus, da hängt noch Spätsommer im Gestrüpp, vergorene Fruchtsüße, Wasser in Reifenfurchen, Wintersaat bis zum Horizont, fünf Windräder und Hochsitze. Umgestürzte Birken am Waldrand. Und wieder ein Tag im Leben.

Unter den Brücken zum Hauptbahnhof, Humboldthafen

An einem Pfeiler unter den Zugbrücken hängt ein Zettel, halb abgerissen. Maschinengeschrieben eine Anrufung der Erinnerung, ein Gedicht für Günter, der hier vor 60 Jahren beim Fluchtversuch erschossen wurde. Ewald dagegen hat Glück. Verschmitzt lächelt er und nimmt ein Schlückchen Schnaps aus einer dunkelbraunen Glasflasche ohne Etikett. Er hat noch einmal die Große Liebe getroffen! Als 77-Jähriger! Die kümmert sich um ihn, bei ihr ist er untergekommen. Sein eigenes Zuhause hat der buckelige Alte vor langen Jahren verloren, nachdem er über 700 Tage im Wachkoma im Krankenhaus lag, eine nette Pflegerin, eine Kasachin, hat sich manchmal nachts zu ihm aufs Bett gesetzt. Da kriegste alles mit, nur selber schwätzen geht nicht. Danach die Straße. Die Welt hat er zuvor gesehen, Wanderjahre durchs Ruhrgebiet und dann als Lastwagenfahrer bis hinter den Ural. Er stützt sich schwer auf seinen Rollator, die Füße kaputt, die Hände tatterich, im Korb ein Paar abgetragene Schuhe und ein schmuddeliges Häufchen Klamotten, in einer Tragetasche klappern Pfandflaschen. Weihnachten soll Hochzeit sein, im Ettlinger Schloss, da hat er seine erste Frau kennengelernt, 53 Jahre waren sie zusammen. Wieviele Leben hat Ewald?

Eisstadion Erika Hess, Wedding, formely known as Impfstation

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Heiliger Strohsack

Ahnengeister? Grabwächterinnen? Ozeanien? Raubkunst im Humboldt-Forum

Gesehen: Die Ethnologische und Asiatische Sammlung der Stiftung Preussischer Kulturbesitz im neu eröffneten Humboldt Forum (Zeitfenster buchen, noch ein paar Wochen Eintritt frei). Die als Pflichtdeko (mit interaktiven Kindergartenspielen, Sitzwürfelecke und Buntstiften ) in letzter Minute übergestülpten, oberflächlichsten Andeutungen zur Provenienzforschung sind schäbig unterkomplex, peinlich altbacken, blöd pädagogisierend und sie demonstrieren unfreiwillig, dass diese über Hunderttausend unfassbaren Schätze nicht „erfasst“ sind, dass sie ganz offenkundig Raubkunst sind und nicht hierher gehören; vielleicht zeigt es auch ein wenig, dass dort vom Computerzeitalter heillos überforderte und jedenfalls viel zu wenige Kunsthistorikerinnen arbeiten. „Wissmann, Kongo, 1880-83“ oder wars 1886-87?, so die sparsame Information. Container voll spooky Altarfiguren mitgebracht? Und sonst so? (In Neukölln gibt es eine Wissmannstraße, die evtl. umbenannt werden soll.) Aber schön abgestaubt, hingestellt und geschickt dramatisch ausgeleuchtet sind sie, die „Objekte“. Und vom Unding des Gebäudes selbst kriegt man vor der Wucht, und ja Masse (115 000 in den Depots) der Kunstwerke dann kaum noch was mit. Weisser Boden, Blattgoldtapete, Sicherheitsabstandspiepserei? Die Totempfähle und Ahnengeister, vor allem die Skulpturen aus den (für Frauen doch eigentlich tabu-en) Männerhäusern in Ozeanien, bewirken bei mir „heiliges Erschauern“, vor dem Heiligen. Wenn Spirit in Kunst wohnt, dann dort. Vielleicht sollten wir doch nicht alle zurückgeben?

Gehört: Gänsehaut beim Solokonzert von Mario Batkovic im Kesselhaus. (Thx to Blog von Call Me Appetite ). Der Schweizer, der gar kein Serbe ist, aber aus Bosnien kommt, spielt sein Akkordeon, als wäre es ein Synthesizer. Hingebungsvoll, Augen zu wie in Verzückung, der schwere Körper eine Welle, ein Brecher, die Finger über silberne Knöpfe fliegend, die Quetschkommode schnauft, seufzt, stöhnt, haucht, brummt, echot, knarzt, kracht, evoziert Landschaften aus Steinbrüchen und Waldwiesen, aus Wäldern, in denen Elfen zum Donnern einer Lastwagenkolonne in den Gotthard singen, Luft klirrt, die Zikaden eines Sommernachtstaumels zerschellen unaufhörlich an gläsernen Wänden, die nicht mehr wach werden. Oder so. Könnte sein, dass leibhaftig geschnitzte Geister oder live gespielte und real verhallende Töne uns Höhlenbewohner gefährlich sentimental machen. Bewegen, rühren, Gefühle erregen, die lange weggesperrt waren. Schorf bröselt, new skin for an old ceremony.

Gelesen. Sylvain Tesson, Mattes & Seitz, französischer Extremreisender fährt mit dem Rad durch Zentralasien, reitet durch Wüsten, haust monatelang an einem eisigen See in Sibirien, liegt bei -30 Grad in Tibet auf der Lauer nach dem Schneeleoparden. Vor dem Umkippen seiner Tagebücherprosa in Blockhütten-Philosophie und Selbsterfahrungs-Kitsch bewahrt den Lonesome Cowboy meist ein ordentlicher Suff. Wodka hat er vorsorglich gut proviantiert, Fische fängt er, Holz hackt er, die Solarzelle funktioniert, die Rückkehr ist organisiert, passieren kann ihm eigentlich nichts. Außer der Bär kommt oder die Freundin verlässt ihn. Der Broken Hearts Macho am Eisloch der Welt ist weitaus interessanter als der Jammerlappen von nebenan, und Abenteuer-Exotismus geht bei mir immer.

Literarisch näher am Himalaya, suffmäßig suizidaler, bewegt sich der Norweger Trinkerpoet Tomas Espedal. Immerwährend, dauerhaft am Rand, das Verlassenwerden als Prinzip der Einsamen Wölfigkeit. Gibt es ein Leben ohne Liebe? Nein. Dann also, was Tod? Voll minimalistischer Brutalschönheit, eisiger Satzschollen und karstigen Prosa-Miniaturen, Rasenmäher, Fabriktore, Aufwachen in einer Kotzelache. Einer depressiven Einsicht folgend gibt sich Espedal noch ein Jahr. Das zu leben er tagebuchartig beschreibt – in Form eines Langgedichtes, in Flattersatz! In kleinen Schlucken geniessen. Mit dem Vater, immer der Vater, der ist auch Trinker, auf Kreuzfahrt. Es dichtet ein todessüchtiger Trinker, ein Süchtiger, der den Suff lobt, das Ende preist. Nihilismus in der Reihenhaussiedlung. Erinnerungsfetzen in Alkoholpfützen. Aber auch zum Sterben braucht es einen guten Ort. Der will gefunden werden. Ohne heroische Attitüden wandert auch Espedal in seine schrundigen Seelenlandschaften, in Anzug und dem Rucksack voller Bierdosen, wühlt in seinem von der Existenz gekränkten Ego. Wortkarg. „Gehen“. „Leben“. „Lieben“. Radikale Autofiktion, Reduktion des Gelabers. Es gibt nichts Besseres als zu schlafen. „Und manchmal im tiefen Schlaf hat er die Liebe verloren und sich selbst.“ Tomas Espedal: Gehen, 2020, Das Jahr, 2018, Lieben 2021, Matthes & Seitz

James Canton: Biografie einer Eiche, Was alter Bäume uns lehren, (wenn wir nur lange genug zuhören. Dumont 2021, Noch ein Verlassener, der Heilung in der Natur sucht und sie bei einer 800 Jahre alten Eiche findet. Klein werden angesichts des Großen. Der Brite Canton, er lehrt Wild Writing in Essex, erzählt von Baumgeistern, Sommernachtstraum-Pucks, keltischen Druiden (den „Eichen-Kundlern“), dem buddhistische Satori, der flüchtige Moment hinter der Fassade die Möglichkeit der Erleuchtung zu spüren. Wenigstens aber anlehnen.

Andreas Maier/ Christine Büchner. Bullauge, Versuch über die Natur, st 2008. In diesem freundlichen Büchlein über Seifenkraut, Ehrenpreis und Kleibern das Schreiben darüber („Traktat über den Seelensegen der Naturerfahrung“) zitiert die katholische Theologin des Autorenduos den spätmittalterlichen Mystiker des „Seelengrunds“: Laut Meister Eckhart sei nur „derjenige gerecht, der ohne ein Warum handelt.“ (Während unser Vorsatz des ohne Warum immer was Bemühtes und Falsches hat, aber nicht so falsch wie das zielorientierte Handeln des Landvermessers.)

Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens, S.Fischer 2018. . Hypersensible Außenseiter, verhaltensauffällige Hochbegabte, verkannte Künstler, kiffenden Studenten, zauselige Träumer und eine Ingenieurin mit Migrationshintergrund treffen sich, oder wie es in Romanen heißt: ihre Wege kreuzen sich. Für eine Weile bleiben sie zusammen, um die Welt, das heißt: den Wald und die Bäume zu retten. Diese sozialen Randfiguren mit ihren besonderen Antennen für den „Klang der Bilder“ oder die Sprache der Pflanzen, sie vereint nun eine Mission und plötzlich sind sie Ökoterroristen, etwas geht schief, der Staat, das System, das Kapital, nun wird’s spannend oder eben ein nach den Regeln der Kunst gut gemachter Unterhaltungsoman, in dem Bäume die Hauptrolle spielen. Ein wenig Eso-, Öko-, Weltbverbesserungs-Kitsch, für den Pulitzerpreis hat es gereicht.

William Boyd („Eines Menschen Herz“!) nun ein Spannungsplot aus dem Filmbusiness: „Trio“, Kampa Verlag 2021. Wieder ein Unterhaltungsroman vom allerbesten, denn Boyds Protagonisten dürfen denken. Sie führen Selbstgespräche, belügen sich, hadern und zweifeln und stellen ihre Lebensmodelle in Frage, dazu trefflich fieses Zeitgenossen-Bashing. Der Rebell: „Eine Parkuhr stellt für ihn ein Unrecht dar, den Müll raustragen zu müssen, beschnitt ihn in seiner Freiheit; an einer roten Ampel anzuhalten war ein Angriff auf seine Menschenrechte.“

Hernan Diaz: In der Ferne, Hanser 2021. Ein junger Auswanderer aus Schweden sucht seinen verlorenen großen Bruder, dabei vergeht sein ganzes Leben. Der menschenscheue Riese, Opfer aller Niedertracht, irrt als Flüchtender ewig durch Steppen und Wüsten und Canions, vom Westen nach Osten Amerikas, gegen den Trek der Siedler, zu Fuß, mit Esel oder Pferd, nie wird er irgendwo ankommen, so wenig Liebe, so unendliche Einsamkeit, allein in der Wildnis überlebt er.

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Letzter Aufruf Nirgendheim

Marzahn-Hellersorf vom Großen Ahrensfelder Berg

Einen Berg bestiegen: S-Bahn Station Mehrower Allee, Plattenbauriegel mit Balkonfassaden, Grünflächen mit leeren Kinderspielplätzen, ein ranziger Supermarkt, die Parkanlage Fortuna hat beschilderte Obstbäumchen, drei Senioren an Rollatoren nehmen das Bankangebot wahr. Haben sonst alle hier Arbeit? Jenseits der Kehre vom Blumenberger Damm führt ein Trampelpfad durch Gehölz zum Großen Ahrensfelder Berg hinauf, die Aussichtsplattform hat einen Mülleimer und Natursteinumrandung, kniehoch blüht die Wiese, Graukresse und Rübsam, weiter Lufthoheits-Blick über Hochhaussiedlungen von Marzahn und Hellersdorf. Wilde Mirabellen und Pflaumen sind reif. Brombeeren unten im Wuhletal, Algengrütze auf Tümpeln und verwunschenen Totholzecken.

TXL

Einen Flughafen besucht: Am seit fast einem Jahr geschlossenen Flughafen Tegel findet ein kultursenatsgefördertes Klangkunst-Festival statt (Sonambiente bis 5.9.). Blixa Bargeld hat dafür historische Lautsprecher-Ansagen mit poetischen Zitaten zu einer nostalgischen Collage abgemischt. Abendsonne schraffiert wie fadenscheiniger Vorhang die verwaisten Wartezonen. Erich Mühsam soll sich zum Einstieg nach Monte Verita über Ascona begeben, Erst Bloch wird seinen Flug nach Nirgendheim in Utopia verpassen und auch unsere Reise nach Tahiti verspätet sich auf nimmerwieder. Um Laurie Andersons Videokabuff mit Digitalbrille anzusehen, müsste man lange anstehen, draußen versucht eine Frau lauwarmes Bier in Plastikbecher abzufüllen. Ein Besucher kotzt Bratwurst. Det iss Berlin.

Wuhletal Kaulsdorf

paar Bücher gelesen:

Richard Powers: Erstaunen. (origibal: „Bewilderment“). Mutter tot, Vater Astrobiologe und neunjähriger Sohn hypersensibler Aspergersyndomer mit Greta-Mission, zelten, Milchstraße gucken und gemeinsam anstrampeln gegen die Zerstörung der Welt. Sehr aktueller Öko-Fantasieroman des Pulitzerpreisträgers (Echo der Erinnerung) , S.Fischer.

Helen McDonald: H wie Habicht „Welche verlorenen Leben haben wir verpasst?“ Der Raubvogel und die Zähmung der Einsamkeit, Ullstein TB

Rachel Carson: Der stumme Frühling, 1962, schon damals all das Wissen über DDT und die universelle Skrupellosigkeit von Chemiekonzernen, Lobbyismus, Politik, gleißend deprimierend. CH Back TB

Gabriele von Arnim: Das Leben ist ein vorübergehender Zustand. Pflegt ihren Mann zehn Jahre lang. Kühl und klug, trotzdem hab ich nix gelernt, Rowohlt.

Jeremy Reed: Rimbauds Delirium. Der 17 jährige Schüler schlägt sich durch nach Paris, 1870, da ist Krieg, Dichtung als systematischer Versuch des „Verlumpend“, Jeremy Reed ist selber einer, Radikal Bio, Bilger Verlag, Zürich.

Ulrich Woelk: Für ein Leben. Toller Überraschungsroman, alles drin, was wir kennen, von zauseligen Eso-Hippies und dem Wedding der 90er an, CH Beck.

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Luftraum

Andere sehen das Flimmern der Luft auch. Ich habe Heimweh nach dem Hier, in dem ich gerade spazieren gehe, als wär es schon verschwunden. Das Jetzt zerrt an mir als wollte es mit dem Tag in der Bucht ertrinken, muss es festhalten, es begreifen, da wird es schon zum Bild, zur Postkarte, vergilbt, verblasst. Der Augenblick, den ich erkenne, als wär er meine Vergangenheit, in der ich nicht war. Wie gerne würde ich mich fallen lassen. Wolkenkuckucksheim. Andere liegen auch im Gras. Am Ufer tanzt ein Mädchen mit Sommerkleid und Turnschuhen. Vier Polizisten patrouillieren. Auf einem Hausboot wird gefeiert, ein Floß voll stiller Leute treibt die Spree hinunter, sphärische Musikfetzen wehen herüber. Ein Mann stellt seinen Rollator am Geländer ab und tappert zum Bootsanlegersteg hinunter. Die Graureiher sind schlafen. Mückensäulen verwirbeln im letzten Tageslicht, Fledermäuse übernehmen den Luftraum. Die Dämmerung gehört den Klängen. Nacht macht den Atem leichter.

Über „die Sehnsucht anzukommen“ gelesen: C Pam Zhang: Wie viele von diesen Hügeln ist Gold. (S.Fischer 2021). Zwei Waisenkinder chinesischer Einwanderer im Wilden Westen, der Vater Goldsucher und Minenarbeiter, die Mutter krank, abwesend und dann fort, mit einem gestohlenen Pferd ziehen sie los durch die goldenen Hügel und Gräser der Prärie. Lucy, die anpassungswillige, die das Wasser eines in ferner Zeit ausgetrockneten Sees in sich spüren kann, findet in Sweetwater Sicherheit und Arbeit als Wäscherin, Sam, die wilde, die ein Mann sein will, zieht mit den Cowboys, Banditen und Abenteurern ins Weite. Fünf Jahre später, nun 16 und 17-jährig, brechen die Geschwister erneut zu ihrer Flucht-Reise nach Zuhause auf. Kann man sich Heimat wie eine Seepassage oder ein Stück des geraubten Landes kaufen? Der Tiger spricht Mandarin-Pidgin. Wild, wüst, magic. Toll.

Stralauer Halbinsel, links Rummelsburger Bucht, rechts Spree
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Erzähl mir nichts

Wo sind die Dealer? Ich bin da, sagt der, den ich frage. Wir haben uns alle nichts zu erzählen, weil niemand mehr was erlebt, sagt der Arzt. Wozu das ganze noch kommunizieren? Der Blick in den Mikrokosmos, die Reisen durch mein Zimmer, der Ausflug in die nahe Umgebung, das Studium der Schnecke im Blumentopf, der Tauben auf dem Balkon, die Sensationen des Gewöhnlichen, sie verbrauchen sich wie alles. Die Verabredung zum Spaziergang gilt schon wieder als spießig. Um die Ecke ist kein Abenteuer, bloß die nächste öde Straße wie gestern schon. Heute in mich gegangen. War auch nichts los. Soll Karl Valentin gesagt haben. In den roten Buchvitrinen vor dem Cafe Tasso (Buch 2 Euro, 3 für 5) finde ich Marco Polos Reisebericht Von Venedig nach China aus dem 13. Jh., Abenteuer in Tibet von Sven Hedin (1919), und Kenan Cusanits Babel über die Ausgrabung Babylons der Deutschen Orient-Gesellschaft 1913. Der Kaffee ist lausig, die Verkäuferin unleidig. Auf dem zugigen Mercedes Benz Platz vor der geschlossenen Mehrzweckhalle packt ein Filmteam sein Zeugs ein, auf riesigen Billboards flimmert eine Ankündigung für vergangenen Ostermontag. Könnte ebenso letztes Jahr gemeint sein. Vielleicht sind dies schon die Ruinen unserer Vergangenheit? Die Jungen sitzen paarweise am Spreeufer mit Flaschen und langstieligen Weingläsern. Der Obdachlose vor Rossmann ist wieder da, berichtet von Quarantäne, Polizei und Medikamenten, die man ihm spritzen wollte. Hab niemandem etwas getan. Er ist Rockmusiker, aus Holland, Komponist. Er mag kein Blau, Obst auch nicht. Die Halbschuhe hat er mit Plastikstreifen geschnürt, die neuen Stiefel hatten blaue Ösen. Er hat die Mütze abgesetzt und blinzelt ins Sonnenlicht, schüttere graue Locken fallen ihm kitzelnd ins Gesicht, seine Augenbrauen aber sind blau tätowierte Bögen. Schon irgendwie Frühling. Hinter Aldi geht die Sonne unter.

Ahornschössling an Bordsteinkante Frankfurter Allee

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Koexistenzen

Rummelsburger Bucht

Der Bahnhof im Plänterwald ist verschwunden. Die rostigen Gleise der Schmalspurbahn verlieren sich im Wunderlauch, doch die Station, an der die aufgemalte Uhr immer acht vor zwölf zeigte, wurde demontiert. Das Riesenrad ist auch weg, es soll aber nach Prüfung des Skeletts irgendwann wieder aufgestellt werden. Ein Rotkehlchen hüpft durch die noch kahlen Sträucher. Drei Kormorane haben ihren Baumstumpf im Wasser beim ehemaligen Palmölspeicher wieder besetzt, sind es die gleichen vom vorigen Jahr? Wie alt werden diese großen schwarzen Fischfänger eigentlich? Und spielt das eine Rolle? Sie können bis zu 25 Meter tief tauchen, lese ich auf den Seiten der Nabu, und dass 2005 im Anklamer Kormoranmassaker bis zu 7000 der Raubvögel abgeschossen wurden. 18 Jahre zählte der älteste in der schleswig-holsteinischen Freiheit lebende Vogel, die meisten, über 70 Prozent, erreichen ihr viertes Lebensjahr nicht. Auf der kleinen Spreeinsel Kratzbruch sind sie und ihr Jungvolk vor Waschbär und Fuchs geschützt, die Krähen sitzen auf den Bäumen der Liebesinsel nebenan.Abgesehen von ein paar pensionierten Hobbyanglern, denen es mehr um ihr gemeinsames Abhängen als um einen Fang geht, wird im Schwermetall belasteten Wasser der Bucht schon lange nicht mehr gefischt, auch Biber und Fischotter stehen inzwischen unter wohlwollender Beobachtung des Naturschutzes. Neben einer Uferbank wächst wilder Schnittlauch, eine Ratte klettert den metallenen Abfalleimer hoch und lässt sich hinein plumpsen. Eisiger Wind peitscht das Wasser zu silbergrauen Wellen auf. Wir sehen uns am Meer, um acht vor zwölf.

ehemaliger Vergnügungspark Plänterwald
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Frankfurter Tor

Es war zur Bärlauchzeit. Vor einigen Wintern ging er auf Strümpfen am Ufer entlang, zerlumpt wie ein Derwisch, ein rotes Handtuch über der Schulter, das von weitem leuchtete. Warum nicht, sagte er, damals, als ich ihm ein Bier anbot. Clubs, Musik, Studio, Verstärker, Drogen. Name, Beruf, Werdegang. Runterkommen. Er braucht nichts, seine Freunde kümmern sich, sagte er. Heute „einen Cappuccino, vielleicht“. Die Pappeln in der Bucht, unter denen er schlief, sind eingezäunt, sie stehen noch, fast als Einzige. Die Stimmen seiner Freunde sind lauter geworden, sie sprechen in zwei Tonlagen. Für Außenstehende hört sich das fast lustig an, als ob er mit sich selbst streiten würde. Sein Lager auf dem Bürgersteig hat keinen Baum, es ist zugemüllt, es stinkt. Sein Name lässt ihn kurz aufhorchen, dann versinkt er wieder in weltabweisendes Starren. Was ist ein Cappucchino? Soll ich umrühren? Warum nicht.

„Pöbel Küche“ über der kleinen Luke im Schaufenster. Dahinter ist niemand zu sehen. M. las damals Pynchon auf Französisch und bettelte dezent für den Unterhalt seines Alkoholismus. Er sitzt immer wieder mal an den entlegensten Stellen in der Nachbarschaft auf dem Bürgersteig, kein Gepäck, Pappbecher vor sich, und liest ein Buch. Meist ist es dort viel zu dunkel dafür. M. wirkt immer heiter überrascht und lacht, manchmal wie ein Huhn. Vorhin saß er mit dem Tagesspiegel statt Buch vor Penny, zwei Tüten mit Pfandflaschen, er selbst zusammengefaltet, zerknittert, aber wie immer entglitten gackernd. „Wegda“ keift er plötzlich hysterisch, „Polenpack“. Er hatte seinen Platz und jetzt sind die da, zornig zeigt er auf das Dutzend junger Roma-Männer, das sich im Schutz der dunklen Mülltonnenecke aufhält. Sie sollen ihm ihre leeren Flaschen nicht bringen. Am nächsten Tag geb ich ihm nichts. Ist das jetzt ideologische Triage?

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Wir haben Tabak und Rum

Der Frühjahrsputz geht weiter

Unter der Bahnbrücke haben sich ein paar Straßenjugendliche ihr Lager schön gemacht. Ein Teller mit Äpfeln steht auf einem Hocker, drei junge Hunde liegen auf einer Decke aufgereiht. Schlafsäcke, Plüschtiere und Kissen, Kisten und Tüten sind gemütlich arrangiert. Sauber muss es sein, sagt der Chef-Irokese, die rosige Blondierte im Nest auf dem Bürgersteig nickt zustimmend. Vor einer der Imbissbuden, die den Gang zum S-Bahneingang flankieren, singt ein Alter mit gebrochener Stimme in ein Mikrophon, Hare Hare, Hare Krishna. Er hat eine orangefarbene Mütze auf, der Sound scheppert aus einer altmodischen Box auf einem Rollgestell, ein Gummiband hält ein Bild mit türkisgrüner Landschaft. Ein Inder mit hellbauer Lieferbox und passender Logojacke wartet neben seinem Fahrrad auf das Blinzeln der Welt. Ein Mädchen spielt Gitarre mit Verstärker und säuselt mit Kate-Busch-Stimme eine verwechselbare Ballade. Die Bäckerei-Verkäuferin an der Ecke macht Kaffee an einer richtigen Espresso-Maschine. Ich steuere eine freie Bank am Platz an, da stoppt mich ein junger Kerl und schüttet einen Schwall Rum in meinen Becher, Slowake sei er, seine zwei Freunde aus Polen, rauchen auch? Schon sitze ich auf der Bank neben ihnen. Sie sind angeheitert, die Gegenwart gehört ihnen. Piotr erläutert seine Ideen von einer technischen Intelligenz, nicht Roboter, Porta, ein Portal, das sich öffnet, Beam me up Scottie, I listen, sag ich und verstehe nichts. Manchmal verliert er den Faden, lacht kurz in den Dämmerhimmel, trinkt einen Schluck, eine Pforte, ein Scheunentor, wenn sein Englisch für die komplexen Gedanken nicht ausreicht, wechselt er ins Deutsche. Als ich geh, umarmt er mich plötzlich, Schreck, das tut gut. Ein paar Meter weiter kommt er nach und umarmt mich noch einmal. Wir halten uns fest, Herzschlag pulst wie ein Urstrom durch Schichten wattierter Jacken hindurch. Energy transfered, mission completed.

Frankfurter Allee, Tor zur Untergrundbahn
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Müssen weg

S-Bahnhof Schönefeld

Und zügig weiter mit dem Verschwinden. Jogger und Radfahrer pesen den Uferweg entlang, einer zieht Fetzen von Musik hinter sich her. Würd ich nicht vermissen. Stell dir vor, er wäre ein Eisverkäufer in Vientiane. Oder der Pickup mit der eiernden Werbeschleife für Gaskartuschen in Bezvalley. Bis Mitternacht wummern dann Partyboote mit Karaoke auf dem Mekong. Je lauter desto besser. Blesshühner schreien übers schwarze Wasser. Die letzten Eisschollen tauen, schlierig vom Dreck. Das soll sich ändern. Am Geländer zum Kai hängen Plastiktafeln mit einer Bekanntmachung des Senats. Ab Mitte des Jahres wird hier „ökologisch saniert“, alles, alle Boote müssen weg, das schwimmende Dorf, mit verschlungenen Seilen vernetzt, der vielbevölkerte Uferweg wahrscheinlich ewig Baustelle und gesperrt, verschwunden auch die Bank, auf der ich im Moment sitze und einem Bootsbewohner dabei zugucke, wie er Nudeln mit Tomatensauce auf einem gelben Campingkocher aufwärmt. Voyeur in der Serie Vanishing Cultures. Alles hier wird neu werden, glatt und sauber, durchgehend videoüberwacht, vielleicht mit einer abgezäunten und beschrifteten Öko-Nische für die bedrohte Fauna und Flora, aber keinem Platz für Unübersichtlichkeit, für Zwielichtig und lichtscheues Gesindel, kein schattiges Eck für heimliche Küsse, kein Versteck für Suff, Sünde und Verbrechen. Das Camp der in Nacht und Nebel geräumten Bewohner, wer war obdachlos, ist innerhalb von 14 Tagen ratzfatz spurlos verschwunden, Tabula rasa, Hütten und Habseligkeiten zermalmt, als Müll mit Baggern in Container geschaufelt, vom Erdboden getilgt. Entsorgt. Die ersten Bäume gefällt, Gestrüpp, ordentlich zerstückelt, der Geruch von Sägemehl und aufgerissener Erde. Halbmond. Dystopiekitsch, Gentrifizierungs-Blues. Eine junge Frau hat sich einen Klotz der Baumstämme als Hocker geholt und setzt sich zu ihren Freundinnen an die Promenade. Sie isst einen in Stanniolpapier gewickelten Döner. Die Pappeln stehen noch, schrundig gefurchte Rinden, wachsen schnell, werden 100 bis 200 Jahre alt. Aus ihrem Holz macht man Essstäbchen, Streichhölzer, Furniere, Gitarren, den Kern von Skateboards. Mona Lisa ist auf Pappelholz gemalt. Ein Baum kann bis zu 25 Millionen Samen pro Jahr losschicken, das sind die flauschigen Schneewehen im Frühjahr, Pappeln bilden auch Klonkolonien und können so uralt werden. Die hier werden den Sommer kaum überleben. Ein Krähe pickt an einer kleinen toten Ratte herum. Was dem Fortschritt im Weg steht, kommt weg. Sein Motor ist die Habgier, sagt der safrangelb gewandete Prophet des Untergangs, der wie ein Irrwisch durch Amitav Ghoshs Romane tanzt. In der Trilogie über den Opiumkrieg freut er sich über den Sieg des Bösen, in diesem Fall das Recht des Freihandels, für die Briten, sie kriegen Hongkong, wo sie einen Freihafen einrichten. Kolonialismus, Kapitalismus, Globalisierung, Hybridisierung, Religionen-, Ländern, Kasten- und Klassen-Überschreitungen. Sodom und Gomorrha. Und wenn sie nichts gestorben sind, so leben sie. noch heute. Nach hinduistischer Kosmologie befinden wir uns eh im Kaliyug oder Kali-Yuga, dem Zeitalter der Apokalypse. Das hat gerade erst angefangen. Wo sind die Opiumhändler? (Amitav Ghosh: Das mohnrote Meer, 656 S., Der rauchgraue Fluss, 719 S., Die Flut des Feuers, 858 S.)

Rummelsburger Bucht
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Wir erinnern uns nicht

Gates Closed: SXF Flughafen Schönefeld

Last Boarding Call. SXF, Flughafen Schönefeld ist seit Montag geschlossen. Funktionalismus, schnörkellos, antikonsumistisch, der perfekte Unort. Kein Raum für Sentimentalität. Wir erinnern uns nicht. Wieso trauert eigentlich niemand SXF nach? Nur von hier kam man direkt nach Havanna, der beste Sex des Sozialismus. An einem Gartentisch der Sturmhaube, einer bierzeltgroßen Almhütte neben dem leeren Parkplatz, wartet ein älterer Herr in der Abendsonne auf seinen Flug nach Kroatien. Ist er der letzte Passagier? Er weiß nichts von schliessenden Flughäfen und Tests. Sein Flug geht in 4 Stunden. Die Abfertigungshalle für Handgepäck-only-Passagiere gegenüber ist zum Impfzentrum umfunktioniert. Da ist auch nichts los, ein Securitymann raucht vor der Glastür, alle drei Impfstoffe gäb’s hier, ja, zum auswählen, an guten Tagen um die 200 Leute, nein, wenn was übrig ist, kriegen das die Polizisten hier. Sowieso, was wär mit der zweiten Dosis. Im Radio der Sturmhaube läuft Lilli Marleen, ein Fernster zum Tresen ist offen, ein Schwarzer zapft mir ein Bier. Polizisten patroullieren hin und her.

Selfie

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Noch lange nicht genug

Am Nachmittag ist die Uferpromenade am Mekong knallvoll. Und das ist toll. Der kleine goldene Buddha auf der Bootsinsel ist eingeschneit. Am Geländer muss man anstehen, um ein Drei-Meter-Stück mit Frontalblick in die Sonne zu bekommen. Zwei blonde Polizistinnen bewachen halbherzig eine neue rotweiße Flatterleine zum Ufer-Gras, das hält zum Glück niemanden davon ab, aufs Eis zu gehen. Auf den Terrassenplanken vom Kanuverleih steht einer Thermoskanne. Am Kai vom Paul und Paula warten die Uniformierten resigniert auf ihren Schichtwechsel, danach sollen sie weiter zum Orankesee, der sei zwar noch sicherer zugefroren, aber es gehe eh mehr ums Versammlungsverbot. Ach so. Eistänzerinnen mit den heuer obligatorischen Pelzersatz-Bommelmützen ziehen grazile Schleifen, steife Herren probieren steife Langlaufskis aus, Fahrradartisten führen Tricks vor, Angeber fegen mit meterlangen Hockeyschlägern das Eis, eine Schöne in bauchfreiem Glitzertop zu Leggings posiert vor Kerl hinter Kamerastativ, dann drückt der einen vietnamesischen Popsong an, hechtet zu ihr und beide wiegen sich in leidenschaftlichen Rhythmen geschmeidig um einander herum. Einen Lehrerin packt bunte Eisklötze mit darin eingefrorenen Blättern aus einem Beutel und stapelt sie wie Glasbausteine in der Sonne. Der Schönling mit Hut ist nirgends zu sehen, Luis Trenker mit dem Zwillingskinderwagen auch nicht. Dafür entsteigt eine Göttin in weißem Schneeanzug dem glitzernden Gegenlicht, einen altrosa Kaschmirschal zum Schador geschlungen, silberne Schuhe, silberner Haaransatz, dazu professionell dezenter Catwalk-Gang. Hammer. Eine junge Frau in weißem Faschings-Tütü über Wollstrumpfhose schlenkert ihre Schlittschuhstiefel. „Fällt jetzt eigentlich auch die Fastenzeit aus?“ (Gehörter Witz) Im Ernst hätte ich nichts gegen ein wenig Gebrannte Mandeln, rotglasierte Äpfel, Budenzauber, schlechte Musik, Zuckerguss, Glühwein! Beim Betondrachen vor dem China-Restaurant verräumt ein Mann Mandarinen und andere Lebensmittel in seine verschiedenen Einkaufsbeutel. Siebzig sei er, ruft er mir fröhlich zu, und wenn er mir mal was sagen dürfe, also ich müsse Brokkoli essen, Corona sei wie ein Schuss durchs Hirn, durchlöchert, zack, alles Kalzium weg, deshalb viel Brokkoli, und täglich Fisch, oder eben Linsensuppe, das Wasser trinken, überhaupt die Wasser, vor allem aber das Linsensuppenwasser.

Nichts bleibt wie es ist

Das ist ein Neubau. Gestern stand dort die Feuertonne, in der ein junge Mann in Sicherheitsweste ein Feuer schürte. Die Tonne bekam einen Kamin und wurde zum Ofen, Wände drum herum, Dachplane drauf, fertig ist das 1A-Shack. Über Nacht, fast ein „Gecekondu“. Wieso können die Seurity-Typen das eigentlich so gut? Hatten sie Helfer? Sub-Unternehmer? (Sag nie mehr Schwarzarbeit.)

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Jahr der Kuh

Pünktlich zum chinesischen Neujahrsfest gelang heute die Überquerung des Mekong trockenen Fußes. Faisal schürt ein Feuer zur Feier des Jahres der Kuh, oder des Büffels, Stiers, Ochsen, Hauptsache es wärmt. In einer Stunde hat er selber Feierabend.

Die Feuerschale und das Garrtenmobiliar ist von B. gespendet, der bis vor kurzem im Bungalow dahinter wohnte. Jetzt ist das Gelände geräumt und gesperrt, Faisal bewacht es, sein berlinernder Kumpel macht das Gatter auf, damit ich besser knipsen kann. Ob ich gesehen hätte, was die dort für teure Fahrräder gabt hätten?

Auf dem Eis gehen ist wie schweben. Das eigene Gewicht scheint schwerelos. Ein Schlittschuhläufer hat antike lederne Schnürstiefel mit Metall-Kufen an, die käsigen Waden trägt er nackt bis an die filzgrauen Knickerbockerhosen, ein gelbschwarz gestreifter Schal malerisch über die Schulter drapiert, auf dem Kopf eine Schiebermütze. Als er sich dann auf den Balken in meiner Nähe hinhockt, holt er eine Bierflasche aus dem Stoffrucksack, die hat einen Bügelverschluss. Dann stopft er eine gebogene Pfeife und pafft aus seinem Schauzbärtchen. Ein großer graublauer Mützen-Anoraktyp lauft auf ratschenden Plastikkufen immer hin und her. Eine mutige Spätzünderin mit rosa Pudelmütze übt wacklig Kurvenbremsen. Ein Schönling hält sein markantes Gesicht in die Sonne, den schwarzen Hut leicht nach hinten geschoben, Augen halbe geschlossen, check, die Flügel über die halbe Banklehne ausgebreitet. Ist das hier eine Casting show? Palindromdatum 21.2. 21 (Natürlich – Dank an Jvd -war’s der 12.2.21, ob ich das nochmal lerne mit den Zahlen?)

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Ah-honk

mehr kann man derzeit nicht erwarten

Eigentlich fängt man so keinen Satz an. Meine derzeitig favorisierte Kleine Runde führt gleich zu Beginn über eine große Brücke. Beim ersten Anhalten tankt der Blick schon mal viel Weite über gut ein Dutzend Bahngeleise, die wie die Kabel einer aufgeschlitzten Elektroleitung den Horizont befingern. Das Ende der Brücke kann man in langem Auslauf enlang der Autos oder auf einer geknickten Treppe erreichen. Dann ist man fast schon an der Bucht. Wasser und Himmel kommen dazu. Wind. Boote, Vögel. Enten paarweise, Blesshühner durcheinander. Möwen. Was brauchst man Meer, wenn sich schreiende Möwen in einer Reihe auf das Ufergeländer setzen. Das Metall ist kalt. In der Nixenbucht hat das Gartenbauamt alte Baumstämme vom Ufer ins Wasser drapiert, auf einem sitzen tatsächlich gern drei Kormorane! Dort habe ich letzt einen Eisvogel vorbeiflitzen sehen, schwöre! Die Kormorane, bestimmt 80, versammeln sich jetzt alle in den Baumkronen der kleinen Insel Kratzbruch, auf die Menschen nicht dürfen. Da mündet die Bucht in die Spree. Auf dem Fluß treiben Eisschollen langsam am hoffentlich wieder eröffnenden Doof-Biergarten gegenüber vorbei. Im hier eisfreien Wasser paddeln Enten herum, zwei Mandarinenten machen in ihren exotischen Kostümen schwer was her. Die Schwäne haben Halbstarke in bräunlicher Jugendtracht im Schlepptau. Und wie eine richtige Rentnerin habe ich Vogelfutter in einer Plastiktüte mit Zippverschluss dabei. Sechs Riesengänse hupfen im Nu die Bordstein-, äh Uferkante hoch und pöbeln um meine Beine herum. Atlantische Kanadagänse seien es, sagt ein junger Australier, der fröhlich knipst, wie die fast metergroßen Vögel sich mir aufdrängen, ihre langen schwarzen Schnäbel schnattern wichtigtuerisch quakquack, quiik wok wie der Engländer sagt, im Flug heißts dann „ah-honk“. Ah Honk!

Graureiher
eindeutig

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Heute

sinking

Die Hütten des Obdachslosen-Camps wurden nicht weiter demontiert. Bis zun 12,.2., so ein Plakat am Zaun, sollen die Bewohner ihre Sachen rausholen können. Einer kommt mit einer Plastikbox auf der Schulter raus. Der Zugang wird bewacht von Männern in orangenen Westen, sie machen Feuer in Tonnen, sie sprechen fremde Sprachen. Sie verstehen.

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Betreute Räumung

Amaretto

Ich habe den Hubschrauber gehört in der Nacht, Sirenen keine. Tags drauf ist die Bucht geräumt. Die Bewohner sind schon vertrieben, teils „umgesiedelt“, ihre Zelte und Hütten zerstört. Ein gelber Bagger zermalmt hinten schon die ersten Behausungen zu Müll, ein Sofa zerbröselt wie Knäckebrot. Eine Kette fescher Polizisten bewacht die Zugänge zum eingezäunten Camp, gepolsterte schwarze Uniformen, schwarze oder weiße Masken, wie wir, die Demonstranten und Passanten, wir sehen alle gleich aus, müde Krieger im festem Schuhwerk. Die Räumung des Camps sei ein geordneter Abzug gewesen, begleitet von THW und einer stadtbekannten NGO. Rollkommando mit Sozialbetreuung. Wieso bei Nacht und Nebel? Woher plötzlich die Sorge um das leibliche Wohl der ca. 100 Zelt- und Hüttenbewohner, welche die Lokal-Politiker jetzt zum Handeln bewegt, 8 Grad minus? Die Hälfte, 47 der Bewohner, berichtet der auskunftswillige Polizist, sei freiwillig in die Traglufthalle umgezogen sein, die nächsten kämen in das Hostel in der Boxhagener, oder die aus der Halle ziehen dorthin. Widersprüchliche Infos, Gerüchte, Geheimagenten verhandeln noch, Vollverpflegung bis April. Vor den bodentiefen Scheiben der noch geschlossenen Rezeption des Hostels sammelt sich seit Stunden eine Schlange von Männern, da gäbs Unterkunft heute Nacht, haben sie gehört, 100 Plätze.

Bis zum späten Vormittag, dann bis kommenden Freitag hätten die Geräumten Zeit, ihr Zeugs rauszuholen. Am Nachmittag geschäftiges Ein- und Ausgehen, Kisten, Koffer, überladene Einkaufswagen werden durch den vereisten Matsch bugsiert. Ein Rastafari bringt ein abgenutztes Skateboard aus Holz und einen Musikkoffer in Sicherheit. Wer hat das geträumt? Einer der Polizisten mit weißer Maske fragt, ob ich auch noch mal rein und was holen wolle. Vor Schreck verpatze ich meine Chance. An den Zäunen und Sträuchern zur Uferpromenade hin hängen 1000 Origami-Kraniche. Knirsch, krächz macht der Bagger.

Kamine, Fenster, Türen. Töpfe.

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Nachtgestalten

Zeitgeist Frankfurter Allee

Hinter der Eisenbahnbrücke an der Ecke von Zu Inge hat jemand einen Unterschlupf aus Perser-Teppichen, Plastikplanen und Ästen gebaut. Gerümpel, Einkaufswagen und kunstvoll verbundene bunte Gegenstände dekorieren das Shack. Zwei Passanten bleiben stehen und bestaunen das elaborierte Ensemble. Lachen sie? Nein, der eine bietet mir eine Zigarette an, der andere fragt, ob ich ein Bier mittrinke. Ist das nicht völlig illegal? Weil alles zu hat, verbringen die beiden Kumpel – sie kennen sich seit 41 Jahren – ihren traditionellem Kneipenabend mit Stadtspaziergängen. Da könne man interessante Leute kennenlernen. Vor zwei Wochen trafen sie ein Pärchen, das zuvor gegen das Klima demonstriert habe, Klima! so was lustiges aber auch. Aber dass die Regierung die Obdachlosen so verkommen lasse, sei schon eine Sauerei, dass es die in unserem reichen Land überhaupt gibt! Während unsere Leute im Dreck dahin vegetieren, kriegt jeder Asylant umsonst eine Wohnung! Hoppela. Da wir nun schon auf einer Parkbank sitzen und uns zusammen strafbar machen, palavern wir ein wenig rum. Der aus Brandenburg hergefahrene sagt gar nichts. Heuchlerisch einigen wir uns darauf, dass Asylanten auch Menschen sind. Wie gut die kalte Luft beim Gang durch die ausgestorbenen Straßen doch tun kann. Neonlicht fällt aus einem geschlossenen Späti auf den Weg. Am Tisch davor sitzt ein Mann in wattierter Jacke. Ein Segeltuch-Koffer mit Rädern steht neben ihm, vor ihm eine halbvolle Flasche Rosé. Sein Gesicht wird von einem Heiligenschein aus rotblonden Locken eingerahmt. Ein Engel? Er bietet mir von seinem Wein an. Mit klammen Fingern zwuselt er eine dicke Tüte. Seine Hände sind dreckig. Vom Lagerfeuer, sagt er entschuldigend. Da hätten sie ihn vorhin weggescheucht, hinten am Containerbahnhof, gab Stress. Die Halle Luja dort, ein silberglänzes Ufo mit 120 Betten, musste wegen zu vieler infizierter Gäste schliessen. Die Sozialsenatorin (Die Linke) teilt auf ihrer FB-Seite mit, dass in der Köpenicker dafür jetzt ein a&o Hostel angemietet wurde, als Wohnheim für OfWs (ohne festen Wohnsitz). Es ist nach Mitternacht. Ob die Stadtmission am Lehrer Bahnhof ihn noch reinlässt? Er fummelt einen kopierten Zettel mit Anlaufstellen aus seiner Geldbörse. Einen Schlafsack hat er nicht. Geht schon, sagt er mit einem umwerfend gelassenen Lächeln. Ingmar kommt aus Heilbronn, grummelt was von Therapie in seinen Rauschebart. Seit Februar in Berlin, er kennt sich aus auf den Straßen, Einzelgänger, rumlaufen will er notfalls auch in dieser menschenleeren eiskalten Vollmondnacht.. Ein junger Spunt kommt vorbei, fragt nach einem Blättchen, setzt sich zu uns. Bevor er wieder nach Hause geht, zu seiner Mutter, schenkt er Ingmar seine Handschuhe, die der gar nicht will. Geld auch nicht, es anzunehmen ist ihm peinlich. Schreinern könne er demnächst vielleicht, ein 400 Eurojob, dabei knetet er versonnen seine weichen Pranken. Blöd, dass er gerade Ausweis und Krankenkassenkarte verloren hat. Muss noch mal suchen gehen dort oben. Am Montag gehe er zum Amt. Geht schon. Dabei lächelt der große Mann wieder so warmherzig, arglos und gütig, als bitte er nur darum, ihm seine mangelnde Tauglichkeit für zu dieses Leben nachzusehen. Herrje, es ist Zeit für diese Schnulze:

https://m.youtube.com/watch?v=mc_QQIPQ2e8

What if God is one of us, Joan Osborne

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Männer auf Bergen, im Trainingsanzug

Warschauer Brücke

Ein Bad, eine frische Jogginghose, eine Kanne vom guten Pu-erh. Yunnan Chitsu PinhgCha, ein Teekuchen wie ein gepresster Kuhfladen, mitgebracht aus den Bergen des Goldenen Dreiecks, denk nicht mal dran. Mein Fenster zur Welt sendet mir jetzt Werbung für Freizeitkleidung. Sie kennen mich dort. Wanderschuhe out, abgelöst durch Kombis aus Schlabberhose mit oversize Pulli, Farben, die auch schlaftrunkenen Augen nicht weh tun. Gefällt mir. Zuviel schlafen fördert depressive Verstimmung, heißt es. Mit deren Zunahme nimmt die Motivation ab, dagegen oder sonst irgendetwas zu unternehmen. Der Vorteil kürzerer Tage sind weniger Stunden schlechter Laune, wobei das Trübsal sich Wochen oder Jahre verlängert. Der Alte im Rollstuhl, der immer wieder laut „Lotte!“ ruft, sie hört ihn nicht, findet der seinen Trainingsanzug eigentlich gemütlich, egal oder peinlich? Die marineblaue Uniform mit weißen Längsstreifen und Strickbündchen ist aus der Mode aber noch fast wie neu, nie wurde er für sportliche Selbstoptimierung missbraucht. Die Frauen an den Tischen um ihn herum sind besser gekleidet, sie achten noch auf ihr Aussehen, selbst wenn sie sich nicht mehr erkennen, sie beteiligen sie sich am Gesellschaftsspiel, solange sie sich noch wehren können gegen die Nachlässigkeit. Wir werden alle in schicken bequemen Billig-Hausanzügen herumschlurfen. Die Zusammensetzung des seidig fallenden zugleich kuscheligen Materials oder ihr Produktionsort sind in der Reklame nicht angegeben, weder Myanmar noch Millionen Jahre garantiert unverottbares Mikroplastik.

Apropos, schon das zweite Tibetbuch im Dezember gelesen. Beides Männerexpeditionen mit Todesfall, Kartographen beim Versuch, den letzten weißen Fleck des Unbekannten zu tilgen, zu bezeichnen, nur Männer, Draufgänger, Touristen, machen so was Bescheuertes wie dermaßen menschenfeindliche Eiswüsten und Berggipfel hochzuklettern, auf denen sie nichts verloren haben. Egal, ich steh auf Abenteuerromane. Entdecker, Eroberer, Stürmer, an der Erleuchtung scheiternde Westler, die bestenfalls verloren gehen. Immer wieder gut dagegen: Nan Shepherds kurzes Buch „Der lebende Berg“. Nun also Christoph Ransmayrs „Der fliegende Berg“, in fünf Nächten damit durch, 350 Seiten – Flattersatz! Berserkergesänge, Eispickelprosa, Schneekristalle, Schönheit, Sturm. Zwei Brüder, der Vater, Irland, Tibet, Kampf, Krieg, Überwältigung. Wetter, Naturgewalt, Liebe in der Jurte, Yaks, Metis, Tod, drunter geht hier nichts. Der Dichter aber kommt zurück, muss ja ein Buch schreiben. Seiner Geliebten vom Nomadenclan bringt er Lesen und Schreiben bei, damit sie seinen Namen buchstabieren kann. Die Pilger meißeln ihre Gebete in Steine oder bedrucken das Wasser eines Baches mit geschnitzten Holzstempeln, damit die Worte wie in den unentwegten Gebetsmühlen ewig murmeln, nie verhallen. Loaden, I presume. Glimpflicher, wenngleich mit ebenfalls existentialistischer Intention begonnen, ergeht es Matthias Politiycki auf seiner Bergbesteigung im gefährlichen Afrika. Auf dem Kilimandscharo ist es nur eine Nacht im Krater saukalt, ansonsten sind die einheimischen Träger auch hier zuverlässig und nett. Weniger der Berg ist dem Hamburger Brillenträgerwürschtel eine Herausforderung als der Tscharli. Der spillerige Maulheld aus Bayern ist nämlich schon da und macht jeden Anflug von Erhabenheit zunichte. Ois easy! Er nervt überhaupt aufs lustigste mit sexistisch rassistischen Kalauern, angeberischem Gaga-Suaheli und natürlich hat der angeknackste Bauingenieur das Herz auf dem rechten Fleck. Wakala! Eine Männerfreundschaft fürs Leben, aber ach, zerbrechlich ist’s auch hier. Noch heiterer, dabei auch um nichts weniger als um die vorletzte Weisheit, geht es beim süffisanten Macho Helge Timmerberg zu. Sein Ausflug führt den Langstreckenreisenden nach Kathmandu, wo er einen Yogi wiederfinden will, der ihm sein Mantra gegen die Angst entziffern soll. Er steigt ein paar Treppen des Tempels hinauf und hinab, bis seine Mission erledigt, der Zauber durchschaut und neu übersetzt ist. Ansonsten steht er viel mit dem Taxi im Smog und fragt sich, wie er sein Billigticket umgebucht kriegt. Shiva ist der Gott der Zerstörung und kommt aus jedem Auspuff. Das Mantra des glückliche Reisens findet er wie immer nebenbei: „Da sein und auf die Straße schauen“. 

Frankfurter Alle

Christoph Ransmayr: Der fliegende Berg, S. Fischer 2006

Matthias Politycki: Das kann uns keiner nehmen. Hoffmann und Campe 2020

Helge Timmerberg: Das Mantra gegen die Angst oder Ready for Everything. Piper Malik, 2019

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Still halten

Verbale Kommunikation wird überschätzt. (Weil mein Eintrag davor so viele Worte hatte,) hier zum nur zuhören: Mario Batkovic spielt mit seinem Akkordeon das Solo-Stück Quatere, zu dt. etwa ‚schwingen, erschüttern, zerschmettern, auch jagen, treiben, hetzen, oder aufrütteln, aufwiegeln.

Weiter, weiter, nun auch ohne Bilder:

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Spreeblick

Wie aber soll die Finsternis erleuchtet werden, wenn wir nicht brennen? Hava korsun gibi agir, die Luft ist schwer wie Blei. Nazim Hikmet, 1961 in Berlin, aufgewachsen in Diyarbakir und Aleppo, gestorben 1963 in Moskau.

Buswendestelle Stralauer Insel

Das Wasser an der Bucht ist ein silberner Spiegel. Ein wogendes Tischtuch wie bei Lukas der Lokomotivführer, von Wolken gebügeltes Metall, gehämmerte Seide, stumpfes Zinn, doch zum Einbruch der Dunkelheit schillert das Wasser in allen Schattierungen von Blau bis Schwarz, fährt alles auf zum Schauspiel der nordeuropäischen Dämmerstunde. An Adventssonntagen der Erinnerungen saßen wir mit den entsprechend wenigen Kerzen am Esstisch, keiner machte das Licht an, bis es draußen ganz dunkel war, keiner verließ den Tisch, man versuchte diese Stunde in die Länge zu ziehen, auszutricksen, indem man nicht an ihr Ende denken durfte. Danach spielten wir Karten, war fast noch schöner. Im Seniorenzentrum an der Spree sind am Ende des Gebäuderiegels auf allen Etagen große Gemeinschaftsräume mit Wintergartenartig riesigen Fensterfronten. Stehlampen, Sitzecken, Sessel, Grüppchen (ich wünsche mir kartenspielender) Silberhaariger. Pflegezustände drinnen, laut Kommentatoren, schlimm. Das moderne Gebäude (Ende 1990er) mit Balkonen ringsherum auf der Stralauer Halbinsel liegt beim alten Speicher (Backsteinhistorismus, 1881, heute Lofts, davor ein schwarzer Sportwagen, siehe Kormoranflug, https://kormoranflug.wordpress.com/2020/11/24/homeoffice/#like-4390). Dort wurde einst aus Palmkernen aus den westafrikanischen Kolonie Öl, besonders für Margarine gemacht. Auf der anderen Seite der Stralauer Halbinsel erinnert ein Steindenkmal an Karl Marx, der sich während der 1837/38 in Berlin grassierenden Choleraepidemie als Student dort hin verzog und in einem Gartenlokal für den Kommunismus missionierte. Der Streik der dortigen Buddemaker (Arbeiter der Glasfabrik) von 1901 war laut der anderen Steinplatte von 1964 von seinen Ideen inspiriert. Davon, einem Gartenlokal oder irgendwelchen anderen Einkehrmöglichkeiten, let alone a Späti, gibt es keine Spur in der ganzen riesigen modernen Wohnanlage. Im schönen Neubau des Altersheims wurden am vergangen Wochenende ein Viertel der Bewohner (55) positiv getestet, plus 13 Pfleger, vier im Wachkoma ins Krankenhaus. Einmal war ich drin, die Pförtnerloge stand leer, schwarzes Brett unergiebig, einen Flyer eingesteckt, dann im Sog einer wild zeternden Dame im Rollstuhl vor die Tür geflüchtet. Sie erzählte Geschichten, spuckte sie fast aus, nicht alles verstand ich, dann kehrte sie erschöpft wieder zurück. Wahrscheinlich rauchten wir vorher noch eine zusammen. Ich sollte mal wieder vorbei gehen und fragen, ob ich eine Bewohnerin zum Spazierenschieben ausleihen kann. Wär auch einer Art Rollator für mich. Besser nach Ostern. Oder Pfingsten? Ja, ich kenne auch Leute, für die Weihnachten allein echt Scheiße ist und ich finde es auch scheiße, nicht früher das Enkelmachen bedacht zu haben. Positiv getestet. Nachhaltig shoppen. Würdevoll sterben. Sterbehilfe wird legal. In Österreich! Witz (von einer Comiczeichnung): Was kann uns 2020 schon noch schlimmes passieren? Dazu rennt einer der Heilgen 3 Könige aus dem Stall und schreit: It’s a Girl!

Dank an Aushilfshausmeister HH

In der Nacht zu heute wurde Tommy an von der Bucht tot gefunden. 57, bärtig, Cappy, heißt es in der Zeitungsmeldung, seit zehn Jahren ohne Wohnung, saß oft auf der weißen Gartenbank auf seinem Boot und trank Kaffee. Er schlief in seiner Kabine, sein Fernseher lief mit Autobatterie, er malte Bilder, die er manchmal verkaufte, sammelte Flaschen. Die BZ brachte im August ein Porträt über ihn. Er war nicht obdachlos! stellt einer auf Fb klar. Sein Boot war eines der meist fahruntüchtig wirkenden Kähne, die gegenüber des geschossenen Clubgartens am Ufer ankern. An Spätsommernachmittagen kehrte ich gerne dort ein. Der Türsteher und Platzanweiser wusste schon beim zweiten Besuch, wo ich sitzen möchte, der verpeilte Ober was ich trinken will. Seeblick, Hafenpromenade, Feierabend, Urlaub, Alltag forever. Die Boote liegen dort schon so lange, dass sie zusammen ein organisches Ufergewächs bilden, ein dümpelnder Cluster aus Materialien und Zeit, ein atmendes, murmelndes Biotop, an dem gewerkelt wird. Licht brennt, Wasser riecht, Leute und Hunde gehen hin und her. Ein Schandfleck, sagen manche, fast so schlimm wie die informelle Siedlung nebenan, der Slum aus Hütten, Planen und Zelten mit Zäunen aus Einkaufswägen. Bis zum Frühjahr war dort ein Sozialprojekt für Straßenkinder zu Gange, es gab Beratung, Kaffee, Klos. Die Roma nebenan sind weg, ihre von den Frauen sauber gefegten Behausungen plattgemacht, manche leben ein Stück weiter, Autos stehen da, in denen einige ihre Wertsachen aufbewahren. Die Zäune eines zukünftigen Water-World-Komplexes kreisen den verbliebenen Zufluchtsort immer weiter ein. Wo die Wagenburg des Protestcamps stand, werden schon riesige Heizungsrohre verlegt, eine Securityfirma und Kameras bewachen die Baustelle. Kerzen und Blumen am Zaun erinnern an die ermordete Fünfzehnjährige, die im Sommer im Gebüsch dort gefunden wurde. Der Müllcontainer wird schon lange nicht mehr geleert. Auf ihm steht Sisyphos.

Der ehemalige Speicher (Bildmitte), rechts davon das Seniorenzentrum Haus am See

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Müßiggänge

BER, Flugfeld Ende Oktober

Graureiher, Silbermöwen, Blesshühner. Enten, Kraniche und Schwäne. Und Bänke, um in die tiefstehende Sonne und den gespiegelten Himmel zu schauen. Die Uferpromenaden sind voll. Jogger keuchen vorbei. Familien blockieren den Weg mit Kinderwägen, Gehende sprechen laut in unsichtbare Telefone. Was immer schon gestört hat, nervt jetzt. Mein Versuch vom neuen Flughafen BER zum Terminal 5, dem alten in Schönefeld zu laufen, erfüllt alle Wünsche nach sozialer Distanz, scheitert aber ansonsten kläglich. Luftlinie nur wenige Kilometer, grenzenloser Himmel über der Service-Zone, eingekreist von unüberwindlichen Autobahnschleifen.

Der Ausflug ins Wuhletal nach Hellersdorf beginnt spektakulär. Wie eine Fatamorgana liegt direkt am U-und S-Bahnhof ein Dorf am Wiesenrand. In der Schlaufe um den Kienberg verliere ich die Richtung und gehe in die falsche bis es dunkel wird. Entlang der Ausfallstraße Blumenberger Damm leuchtet der Berufsverkehr. Der Weg zwischen Parkplatzrabatten vor Plattenbauten mit Hair-Express, Eco-Express Waschsalon, Tierarzt und Parkhotel Marzahn ist weit und menschenleer. Kein Späti, keine Kettenbäckerei, keine Straßenbahnhaltestelle.

Beim Spaziergang um die Bucht kann ich kaum etwas falsch machen. Jedes Schild zu Geschichte und Botanik des Ufers hab ich mindestens ein Dutzend Mal gelesen, ich kenne jedes öffentliche Klo, jede Sitzgelegenheit, jeden Ausguck und jeden Mülleimer. Und heute: Schock Starre Not. Die beiden Trauerweiden sind gefällt. Riesige alte Bäume am Spreeufer, ihre Kronen und Äste über die Kaimauer und dümpelnden Schiffe und die Grünfläche vor der Boulderhalle. Früher gabs dort guten Cappuccino, den man auf einer Bank bei den Weiden und Spreeblick trank. Die Schönen Weiden hatten Pilzbefall, mit dem sie noch lange hätten leben können. Doch er macht die Alten gebrechlich und herunterkrachende Äste sind im öffentlichen Raum eine Gefahr, die beseitigt werden muss. Be aware of Gebrechlichkeit. Die Kletterhalle ist im Schuppen eines rudimentären Backsteinensembles. Die Fabrik wurde 1867 durch den Chemiker Paul Felix Abraham Mendelssohn Bartholdy, Sohn des Komponisten gegründet und gebaut, seit 1873 Aktiengemeinschaft für Anilinfabrikation, AGFA. Der Unternehmer Paul wurde 39. Weiden wachsen rasant, sie werden selten älter als 50 Jahre, höchstens 100.

Sonntag an den Müggelsee ist auch eine blöde Idee. Parkplätze voll, geballte Heiterkeit beim Strandbad Rübezahl mit Fassbier Pommes Stieleis. Ein langer Holzsteg mit abblätternder Farbe führt durch Binsen in Wind und See hinaus. Die Einsamen grüßen einander. Das Hotel Müggelseeperle wirkt verwaist, die Terrasse demontiert, sieht nicht aus, als ob es erst seit einem Jahr dicht wäre. Wieder dunkel, Parkplatz leer, 15 Euro Knöllchen. Der Ordnungsdienst muss halt auch mal ins Grüne.

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Zerstreuungsverbot

„Symbolbild“ aus einem Reiseprospekt

Ich möchte keinen Urlaub in Deutschland machen.

„Es zählt jeder Tag“, sagt die Kanzlerin.

Der Kilimandscharo brennt.

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Hundstage

Rummels Bucht

In unserem Hinterhof steht eine Linde. Sie verschattet und kühlt die Wohnungen. Eine Taube sitzt drin und laust sich. Die Tauben sind standorttreu, sie hocken auch ganz selbstverständlich in den Blumenkästen unserer Balkone. Nur weil es geht, kehre ich im Biergarten an der Rummelsburger Bucht ein, es fühlt sich verkehrt an, an diesem als Bretterverschlag hingezimmerten „Club“ ein Formular mit meiner Adresse auszufüllen. Der kellnernde Dreadlockdutt-und zerrissene Klamotten tragende Systemkritiker kennt keine Eile, dafür beim nächsten Besuch schon mich und meinen Getränkewunsch. Noch haben wir Ausgang, die Spatzen sind verstummt. Die Zeit hält die Luft an, selbst die Mücken suchen Schutz im Schatten. Ein Flaschensammler mit Wollmütze schiebt einen vollen Kinderwagen, das Leergut scheppert wie der Auftakt eines Hobby-Westerns auf Youtube. Huhu, Spiel mir das Lied vom Tod am Strand Algeriens. „Es war sehr warm“. Marcello Mastronianni im Unterhemd am Hotelfenster. Visconti, 1967, Anna Karinas grässlich affektiertes Lachen. Meursault raucht blaue Gauloises. Er hat keinen Ehrgeiz, alles ist egal, die Sache langweilt ihn. Frauen gackern, Männer klatschen ihnen auf den Hintern. Da ist überhaupt nichts grundlos. Der Junge spielt Panflöte. Es gibt „fünf kurze Schläge an das Tor des Unheils.“ Dann dauert „der Prozess“ aber doch recht lang. Die Araber („Killing an Arab“, The Cure, 79) kommen nie zu Wort. In „der Leere des Herzens“ fühlt der cool killer endlich“die zärtliche Gleichgültigkeit der Welt.“ Dreht sich weiter und wir sind nichts. Existentialisten braucht heut auch niemand mehr. Es ist noch immer zu heiß, um raus zu gehen.

In Scheiße treten

Nach einer arabischen Legende sind die Hundstage, wenn der Sirius als hellster Stern des Großen Hundes erscheint, jene glühend heißen Tage, in denen die Fata Morganen aus dem flirrenden leeren Himmel tropfen.

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Griechischer Wein

Bier ist unterm Tisch

In Pankow ist Musik. Eine laue Samstag Nacht, die Gartenwirtschaft offen, am Himmel ein Komet. Die Tage werden wieder kürzer. Der Ballermann will trinken, feiern, saufen, tanzen, grölen, grillen, lachen, die Frau auch, wer will es ihnen verübeln? Einer darf den DJ machen. Die Playlist ist vorgegeben. Ich kann die Sehnsucht nach „Griechischer Wein“ voll nachvollziehen. Udo Jürgens Mega-Schnulze von 1974 handelt – Liedtext Michael Kunze – von Einsamkeit und Heimweh griechischer Gastarbeiter im Ruhrgebiet. Zu „Simply the best“ nicke ich rhythmisch mit dem Kopf. „Geh nicht vorbei, als wär nichts gesehen, es ist zu spät, um zu lügen…“ Christian Anders, 1969: „Willst Du mit mir gehen und die Welt wird schön.“ Bei „I can’t get no…“ nehm ich Ritalin. Später, zuhause im wlan, lade ich Landkarten hoch (down), aktualisiere die mapp-mich-app mit Detailkarten aus Italien. To start with. Tessin, Kärnten, Slowenien, Kroatien. Bis auf Bosnien-Herzegowina so, wie meine Eltern in den Wirtschaftswunderjahren den Radius ihrer Urlaubsziele erweiterten. Zunächst hing es am Fortbewegungsmittel, mit dem Opel über den Brenner?, den Rahmen stecken die eigenen Verhältnisse. Krönung des Luxus hieß „Freie Getränkewahl“, d.h. jedes Kind durfte seine eigene Limo bestellen. Wir stiegen auf ins weiße Hotel am Gardasee. Die letzte Familienreise schon mit dem Flugzeug nach Mallorca, Spaziergangsfotos mit Eseln und Sombrero aus Cala Ratjada. Mit mutterlosem All-inclusive auf Djerba überschritten wir die Grenzen von Europa. Wahrscheinlich waren wir damit die ersten unseres Clans. Wer von den Großeltern hat je das Meer gesehen? Ein Onkel machte den Segelflugschein. Der Adler kaufte einen VW-Campingbus. Mit dem fuhren dann wir nach Griechenland. Jetzt bleiben wir hier.

Berlin und die Welt wird schön

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Synthetische Musik

Der Mohn ist aufgegangen

Überall Party und Picknick. Eine pummelige junge Frau unterhält ihre Freunde, sie steht barfüßig auf der ausgelegten Decke, gestikuliert ausholend und erzählt voller Verve etwas, was versteh ich nicht. Dazu ist die Musik zu laut. Sie wummert dumpf und öd aus einer Boombox. Hört man so einen Scheiß in diesen Clubs, in denen die alle arbeiten und jetzt im Dauerurlaub sind? Eine andere, schlecht tätowierte junge Frau hatte einen Job an der Garderobe des Clubs, in dem die ersten Fälle aufgetreten sind. Sie war auch krank, hohes Fieber, die obligatorischen Symptome, fies sei es gewesen, sie habe übers Sterben nachgedacht. Sie musste in Heimquarantäne bleiben, getestet wurde sie nie. Jetzt bezieht sie Hartz 4, zum Glück, sagt sie, derzeit kein Problem weil das zuständige Amt völlig überlastet sei und alle Anträge durchwinke. Die Partygäste auf dem Spielplatz sind still geworden, die monotone stampfende, synthetische Musik läuft weiter. So viele Leute haben winzige Hunde. Mehrere sehe ich wiederholt, weil sie wirklich mit dem Tier um den Block gehen. Die Hunde wedeln mit den Schwänzen.

(Das war jetzt ein Übungsblock zum ausprobieren des neuen Editors)

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Ein guter Ort zum weinen

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Die besten  Spaziergänge werden die, bei denen ich mich ziellos voran treiben lasse. Wovon? Mein Plan reicht nur bis zur nächsten Ecke, wo ich die Richtung ändern kann, einen Bogen schlage oder einfach weiter geradeaus gehe. Stehen bleibe, gucke. Bei einem Wohnblock für Betreute gleich hinter der Frankfurter Allee scharren vier Hühner in einem Gehege, im angrenzenden Hof einer Backsteinkirche schreit ein Jugendlicher.

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Hier unten war ich noch nie. Drinnen schon, das Schwimmbad mit seinen olympischen 50-Meter-Bahnen ist mit der Straßenbahn vom Alex aus gut erreichbar, von meiner jetzigen Wohnung ist der „Europasportpark“ nur drei S-Bahnstationen entfernt. Im Juni hätte Massive Attack unter der kreisrunden Stahldachkonstruktion des Velodroms gespielt. Die Radrennbahn soll aus sibirischer Fichte sein. Jetzt knattern eine Handvoll Jugendliche mit ihren Rollbrettern die Betonpisten entlang. Früher, bis zum Abriss 1992 und Neubau für die 1993 abgeschmetterte Olympiabewerbung Berlins, stand hier die 1950 eröffnete Werner-Seelenbinder-Halle, ein auf dem ehemaligen Schlachthofgelände errichteter Konzertsaal für 10 000 Besucher und SED-Tagungsgebäude. Auf dem begrünten Wall um die zwei in die Erde versenkten riesigen Hallen wurden Apfelbäume gepflanzt. Sie kämpfen an gegen den vielspurigen Verkehr auf der Landsberger Allee, vielleicht gegen den Wind aus Sibirien.

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Unten sitzt ein Mädchen und weint, ein junger Mann ist bei ihr. Ihre Rucksäcke liegen 100 Meter weiter in der Kurve aus Glas. Mich tröstet heute nichts. Auf dem Mittelstreifen der Ausfallstraße nach Marzahn blüht Löwenzahn, am Bahndamm Flieder.

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Zwei Sängerinnen auf dem Balkon

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Gänsedistel (Sonchus oleraceus), wäre natürlich essbar

Am Comeniusplatz gibt es eine Menschenansammlung. 50 oder 100 Leute stehen verstreut auf dem Bürgersteig und zwischen geparkten Autos herum, sie schauen alle in eine Richtung. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite wärmt die tiefhängende Sonne eine blassgelbe Hausfassade, vom Balkon im ersten Stock kommt Musik. Ein Trompeter – oder ist es Posaune- spielt zu eingespielter Orchesterbegleitung vom Band, das er mit dem Telefon bedient. Der Musiker bläst inbrünstig, sein Lied fliegt weit über uns und verwandelt uns. Puccini und Dvorak stehen auf dem Programmzettel, ein DinA4 Ausdruck ist an die Hauswand geklebt. Abwechselnd singen zwei amerikanische Sopranistinnen, die eine eher schmal, die andere füllig und gelockt, ja sind wir hier im Heftle?, sobald sie die ersten Töne anstimmten, sind beide so dermaßen sofort Sirenengleich da, nicht die mit Blaulicht, sondern jene die Odysseus verführen wollten, sie tirilierten und schmettern, dass keine Amsel dagegen eine Chance gehabt hätte, herzschmelzende Arien zerschneiden die Stille. Alle halten die Luft an, lächeln. Vor dem Späti an der benachbarten Ecke ist eine dezente Schlange, Kaffee gibts keinen. Die blonde Sängerin tritt ab. Wir sind beseelt und treiben davon.

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Yaam Club

Sechs Obdachlose, schlafend, jeder für sich in einer Nische, Nester aus Schlafsack und Decken, niedere Unterschlupfecken, entfernt von allem. Die Gegend ums Berghain ist eine der letzten großen Brachlandschaften im Zentrums. Es ist noch hell, früher Abend, 19 Uhr vielleicht. Sind sie dann spät in der Nacht wach? Einer hat sein Lager neben dem geschlossenen Eingangstor zu Berlins umworbenstem Club aufgeschlagen. Eine Art Bushaltestelle, an der „Wetterseite“ der Behausung sind Pappkartonagen, sorgfältig verflochten, um den Nachtwind abzuhalten. Unter der Andreasbrücke  beim Ostbahnhof zieht es wie Sau. Trotzdem leben einige hier. Ein Müllhaufen aus Matratzen und Deckeln am Ende. Ein Automat, wie ein Relikt aus Urzeiten: 5 Kanülen, ein alkoholisierter Tupfer, 50 Cent. Geht der noch? Manni und Milan sind munter. Wir kennen uns doch? Heiratest Du mich? Ich trink ja nich zum Glück, außer Bier, Milan grinst und zeigt ruinöse Zahnstummel. Hab kalte Hände, sagt Manni. Sie verräumt eine Schnapsflasche aus ihrem Schoß, halb eingemummelt sitzt sie da im lila-grünen Schlafsack, da drin ist es warm, nur morgens, wenn man raus muss, puh, Essen kriegen sie, der Kältebus der Stadtmission kommt vorbei, in die Unterkünfte gehen sie nie, dort sind Asoziale, die stehlen, was? Manni zeigt ihr dickes Buch, ein Fantasythriller, vorne sind Bilder drin.

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Raw

Auch die Partyzone am RAW Gelände ist ausgestorben. Ein Besucher macht Fotos im Schwarz-weiß-Automaten. Ein grauhaariger Pferdeschwanzträger, unterm Kinn eine Maske aus Plüsch mit Elefantenrüsselapplikation, hoho, spricht mich an. Ich würd wohl auch spazierengehen? Er hat einen süddeutschen Akzent, wahrscheinlich völlig vereinsamt der Mann. Mir ist nicht mehr nach Konversation. Der alte Boden aus Schienen, Platten, Pflastersteinen, abgeplatztem Aspahlt, verschorftem Belag, erzählt Geschichten von früher.

 

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TXL

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Das wird jetzt echt hardcore. Bei Flughäfen sind wir in Berlin sehr sentimental. Ich sag nur Tempelhofer Feld, Volksentscheid, Lerchenwiese, Rosinenbomber, Zen, so.  Jetzt ist der nächste dran. Im Mai noch soll der Flughafen Tegel schließen, vorübergehend, sagen sie, aber es sieht überhaupt nicht so aus, als ob er jemals  wieder aufmachen würde. Der einmal für 2011 angekündigte BER, da hieß er noch Willy Brandt Flughafen, wie verschwand dieser Name eigentlich?, der sei jetzt quasi fertig und könnte ab Herbst den Betrieb aufnehmen. In der Zwischenzeit, für die verbliebenen knapp Dutzend Flüge am Tag mit 1% der früheren Fluggäste, geht, wie eigentlich immer, Schönefeld. Dort fährt sogar die S-Bahn hin.

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Auf dem Rückweg spazier ich um den Plötzensee. Am Bootsverleih verscheucht mich die kurzärmelige Betreiberin, aufs Geländer stützen nicht erlaubt, Kaffee gibts auch keinen. An der Schleuse sitzt ein Mann mit gefärbten Locken, neben ihm hängt eine Angel in den Kanal, ein angebrochener Beutel Toastbrot, eine goldene Lautsprecherbox, die Flasche Wodka dreiviertel leer. Er macht Platz für mich auf der Bank, bietet mir einen Schluck an, zeigt Fotos von sich auf seinem Telefon. Mit Sonnenbrille und Manta, Mafia, sagt er und lacht beschädigt. Mehr Fotos. Sohn erwachsen, eine Freundin, mit Laube, Marzahn. .

Gellendes Kindergeschrei. Die Quelle ist ein zorniges schwarzhaariges Mädchen, das sich  halbherzig angeschnallt  im Buggy windet. Der junge Vater gibt dem Schreikind sein Telefon, auf dem hat er einen Kindercomic  eingestellt, die Mutter fast voll verschleiert, scheint bloß froh zu sein, dass sie hier in der Weite des Volkspark sind. Für Lili ist es überhaupt erst der zweite Regen. Sie ist sechs Wochen alt, ihr faustgroßes Gesichtchen rosig verschrumpelt, sie liegt in einem Tuch eng um den Oberkörper ihrer Mutter geschmiegt. Die sitzt breitbeinig und abgesehen von zwei Umschlagtüchern in Unterhose auf dem Boden am Seeufer, zwei verklemmte Migrantenjungs in Kapuzenjacken lümmeln zu nah um sie herum. Nein, sie braucht keine Hilfe, sie friere nicht, sie schwimme hier. Auf dem See rudert eine Geburtstagsgesellschaft vorüber. Opa singt.

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Der Sprit ist billig wie vor 20 Jahren, im Volkspark Rehberge wächst wie überall gerade die Koblauchsrauke, neben der Gedenkstätte für die „zentrale Hinrichtungsstätte für den Vollstreckungsbezirk IV“ (durch Hängen, wikipedia hat Details) poliere ich die von Taubendreck zugeschissene Motorhaube meines Autos. Wahrscheinlich werd ich jetzt verrückt. So weit ok.

 

 

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In Mitte ists doch auch ganz schön

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Mittwoch vormittag am Alexanderplatz

Vor dem rosafarbenen Bunker von Alexa, der ästhetisch gewagtesten Berliner „Shoppingmall“ am Alexanderplatz, sind weinrote Abstandshalter-Marken auf den Gehweg geklebt. Breitschultrige Türsteher stehen wie vergessene Wellenbrecher vor der gläsernen Pforte herum, die erhofften Konsumentenorgien bleiben aus. Die Mall am Frankfurter Tor war bereits  Wochen vor der „Krise“ halb entmietet und schloss abends schon um Acht. Auch am Alex ist die Schlange nicht vor der Mall mit den immer gleichen Kettenläden, sondern, ganz zivilisiert und fast unscheinbar, vor einem Geschäft für Stoffe und Nähbedarf in den U-Bahnbögen. Nirgendwo, in keiner der gerade erst wieder eröffneten Sportklamotten-Designer-Vintage-Fake-Boutiquen-Schaufenstern zwischen Friedrichstraße, Hackeschen Markt und Alex sehe ich Masken. Es trägt auch so gut wie niemand eine, die Verkäuferin im Asia Shop hat ihren schwarzen Mundschutz selbst genäht, nach YouTube, die Bändel sind alte Schnürsenkeln.

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Im Garten der Parochialkirche steht ein Zürgelbaum, er ist 90 Jahre alt, der Celtics occidentalis L., meist in den Tropen vorkommend, sei winterhart und „sehr widerstandsfähig gegen alle Krankheiten“, steht auf einem Schild an seinem Stamm. Ist die Vorstellung eines jungen schönen Todesengels, der einen sanft ins Jenseits begleitet, nicht eigentlich heidnisch? Efeu liegt wie dicke Kissen auf fast 200 Jahre alten Gräbern. High Noon, das von einem Mäzen restaurierte Glockenspiel bimmelt, in der „Letzten Instanz“ nebenan waren wir mal Eisbein essen. Die Ruine der Klosterkirche strahlt wie frisch poliert im hellgrünen Himmel, im eingezäunten Innenraum blinken neonfarbene Wortfolgen auf einem Laufband, stotternd archaischer Teletext, wird Kunst sein, Dichtung. Die dadaistisch kryptischen Sätze  – das muss man anderswo nachlesen –  sind  „Werbe Texte“ für den Alchemisten Leonhard Thurneysser, der hier, ganz früher bei den Franziskanern, eine Druckerei und eine Wunderkammer betrieb und seine Erkenntnisse gerne in Rätselreimen verschlüsselte. Verstehe das der Vogelkundler. Die „Besseren Alchemisten“ dieser „Unfinished Histories“  sind Monika Rinck und der Dichter Haytham El-Wardany, „How to Disappear“, noch mehr schöne Worthülsen. Grad lese ich, dass eine Pflanzenerkennungsapp derzeit der Downloadrenner ist. Versteh ich besser.

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An der Mühendammschleuse liegen Schiffe vor Anker, unter der S-Bahnüberführung  Jannowitzbrücke Schlafsäcke, ein Rollstuhl. In der Spree treiben gelbe Blütenblätter, unter dem klaren Wasser bemooste Steine, schlammgrüner Pelz, sachte bewegt, oben schwimmen aller Seelenruhe fünf Karpfen, oder Zander?, groß wie 2 l-Colaflaschen. Der neue Arzt zweifelt angesichts meiner unterirdischen Luftwerte am Messgerät oder an meiner vorgeblichen Fitness. Zwei Stockwerke, sagen Sie? Er heißt fast genau wie ein irakisch-kurdischer Schriftsteller, aus dem Wedding beide, er kam aus Treuenbrietzen  und verschreibt mit was bissl stärkeres. Darauf geb ich dem stoppelbärtigen Raucher auf der Bank in der Sonne neben mir gleich einen doppelten aus. Und steige Treppen hinunter und hinauf. Aus dem menschenleeren U-Bahnhof Klosterstraße hallt das Lied eines Straßenmusikers. Seit 1913 leuchten auf den Wandkacheln die babylonische Palmen aus König Nebukadnezars Palastgarten. Ich erinnere mich an eine Kunstaktion (1994), bei der hier zehn unterschiedlich gehende Bahnhofsuhren an Pendeln schwangen. Die Aktion musste abgebrochen werden, weil die Bahnmitarbeiter davon ganz rapplig wurden.

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Klosterstraße

 

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Im Luftraum, 20. April 2020

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Halle Luja, Notübernachtung am Containerbahnhof

Ja, saudoofes Datum. Ein Montag. Grünanlagen, Uferwege, Stadtparks, alles voll, Jogger, Radfahrer, Spaziergänger, mit Kindern, in Buggys, Gepäckträgern, Anhängern, auf Kinderrädern, die Wiesen belagert von Gruppen, Jugendliche im Dutzend auf Decken, Picknick, Biertrinker auf Bänken, niemand schert sich um Abstand, einer von 800 könnte es der offiziellen Statistik nach haben, da wird durchseucht was geht, niemand mit Maske, fast keine Solo-Alten unterwegs, ein Flaschensammler. Eine Sprühflasche Desinfektionsmittel am Schaufenstertresen der Pizzeria, immerhin. 

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An der Hauptstraße, Rummelsburg

Ein blaues, ein rosanes und ein backsteinernes Haus zwischen Ausfallstraße und Bahndamm, Zäunen hegen Gärten mit kleinen Beeten ein, auf den Klingelschildern alles vietnamesische Namen. Hinter Gleisen die Eisenskelett-Ruine eines Gasometers. Oder Lokschuppens.

 

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Saganer Straße

Auf einer abgesperrten Brache ein halbherzig im Gestrüpp verstecktes Zeltlager, Männer, Musik. Haben alle Männer jetzt Freizeit? Stehen am Grill rum. Und wo, abgesehen von den joggenden Muttis an der Uferpromenade, die einen Buggy schieben und dabei am Telefon Termine besprechen, wo sind die Frauen? Arbeiten die alle? Zuhause, in Supermärkten, östlichen Dörfern?

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Seit die Luft so klar, der Himnel so blau und die Kirschbäume so irre blühen (im gegenwärtigen Dystopie-Jargon es ist schon die Rede von „Angstblüte“, weil die Bäume gestresst seien), seitdem es im Luftraum so still geworden ist, stören uns die Nachbarn. . Was auf der Einflugschneise nach Tegel an Lärm wegfällt, kompensieren die Mitbewohner im Stockwerk drüber mit Musikgedröhn, dünn sind die Wände und dumpf bis zur Beleidigung das Programm. Auch am Stadtrand ist der Frieden vorbei. An Rasenmähmaschinen und martialischen Kreissägen kämpfen die Männer der Nachbarschaft alle im Baumarkt wahrgewordenen Heim- und Gartenwerkerträume aus. In meinem paradiesischen Schrebergarten bin ich nach ein paar Stunden juchzendem Kindergeschrei hinter der Hecke kurz vorm Amoklauf. Gibt es jetzt etwa auch weniger Singvögel?

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Viele Amseln hat es seit 2011 erwischt. Das Usutu-Virus kam aus dem Süden hier an, Stechmücken übertragen es. Jetzt verbreitet sich unter Blaumeisen eine neue Killer-Infektion, ganz wichtig sei, die Vogeltränke täglich mit Essigwasser zu desinfizieren. Und Einweghandschuhe. Das mit dem Plastikmüll ist gerade nicht mehr so wichtig.

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Köpenicker Chaussee

 

 

 

 

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Immer noch Sonntag

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Risikogruppe, Stralauer Halbinsel.

Zum „Sonntag der Tränen“ ernennt Papst Franziskus den heutigen. Man soll jetzt Tagebuch schreiben, sonst könne man im Nachhinein nicht mehr glauben, was in so rasendem Tempo bei gleichzeitigem Stillstand des öffentlichen Lebens passiert. Friedhöfe haben wieder stundenweise geöffnet. Auf dem in Stralau hantieren zwei Männer in weißen Seuchenoveralls an Kisten hinter einem Schuppen. Leichen dürfen derzeit nicht gewaschen und angezogen werden, erzählt ein Bestatter im Radio. Die weißen Männer sind nur Stadtimker. Ramazzotti macht jetzt Handdesinfektionsmittel mit Orangenroma. Russland schließt Parks und die Außengrenzen. Südafrika verbietet Bottlestores, dabei weiß jeder, dass der Virus von Weißen eingeschleppt wurde. Der Bürgermeister einer nordfranzösischen Stadt lässt alle Bänke abmontieren, Lufthansa meldet Kurzarbeit für 31.000 Beschäftigte bis 31. August. Auguhust! Als Online-Junkie freue ich mich täglich über all die schönen kleinen, die verzagten, besinnlichen, banalen, traurigen, trotzigen, ratlosen, wütenden usw. Alltagsgeschichten vieler Bloggerinnen und Blogger. (Die links zu den von mir gelesenen Blogs, der blogroll „Andere besuchen“ hier am Rand, ist leider bislang nur automatisch erstellt.) Im Garten übernachtet, saukalt, unerlaubtes Feuer auf dem verrotteten Grill, mit Bettflasche himmlisch geschlafen, zum Glück blühen Pfirsich-, Kirsch-, Zwetschgen-, Apfelbäume noch nicht. „Der Emil“ aus Halle notiert täglich drei Sachen, die positiv waren: 13 Stunden Schlaf, steht da heute. Gewaschen, gebügelt, geflickt. Der österreichische Residenz-Verlag lässt seine Autoren jetzt auch Tagebuch bloggen. Nicht ganz so gut wie hier in Kleinbloggersdorf. Reisen durch mein Zimmer sind das neue Feuilletongenre (Deutschlandfunk). Zeitungen  laden Schriftsteller ein, den Blick aus dem Fenster zu beschreiben oder den Spaziergang um den Block zu literarisieren, Flaneur goes Gassi. Das geht umso schiefer, je bedeutsamer sich die Autoren empfinden, wird schon mal peinlich (Richard Ford in der faz-Reihe „Mein Fenster zur Welt“) oder gleich pathetischer Kitsch („Journal in Zeit der Pandemie“ in der Süddeutschen, uarrgh). Beliebt ist auch das Regal der ungelesenen Bücher als Bühne für narzisstische Angeber, ja klar, Bücher empfehlen, nehm ich mir auch dauernd vor. Lapidare Alltagsethnologie ist halt nix für Großmäuler. Man könnte auch gute Nachrichten sammeln: Portugal verleiht allen Migranten, Asylsuchenden und illegalen Einwanderen temporär Aufenthaltsgenehmigung und  Rechte auf Sozialleistungen , Obdachlose ziehen in Hotels in Mainz oder Frankfurt oder Paris, in Berlin bietet ein Hostelbesitzer an der Warschauer 400 leeren Betten an. Weil ihm der Easyjet-Mob abhanden gekommen ist, unterstellt man ihm Geschäftemacherei, so what? Während bei uns Adidas und Konsortien mit gutem Beispiel für alle kleinen Läden vorausgehen und ihre Mietzahlungen einstellen (der Steuerzahlerstaat wird’s richten), vernetzt ein nigerianisches Buchungsportal jetzt Hotels als mögliche Quarantäneorte, ein Startupunternehmen macht ein Register von Kliniken und deren Ausstattung – und listet 100 Beatmungsgeräte in ganz Nigeria auf, in Indien werden stillstehende Züge zu Quarantäne-Abteilen umgewandelt, der chinesische Internetriese Alibaba sponsert medizinisches Material für Afrika,  eine Firma, die zuvor iPhone zusammenschraubte, produziert jetzt Gesichtsmasken, afrikanische Straßenhändler in Spanien nähen welche, die deutsche Unterwäschenfirma Trigema und Chanel auch. Kreative Arbeitsbeschaffung oder nur gute PR? Kapitalismusbashing wirkt grad auch irgendwie schal. Klaus Wowereits Ehemann,Neurologe, 54, ist an C. gestorben.

Autoren im Residenzverlag

Carolin Emcke in der SZ

tex Rubinowitz im Standard

Richard Ford in der faz

Katarina Poladjan im Deutschlandfunk

Marlene Streeruwitz

Corona Tagebücher Literaturhaus Graz

Rotbuchblog

 

 

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Bügeln übermorgen

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Harper Lee: Wer die Nachtigall stört

Wir sind ja privilegiert. Heimarbeit, Kontaktminimalismus, splendid isolation, social distancing, ist hier schon lange. Einkaufen eh nur das Nötigste und das wird immer weniger. Obwohl. Was wär, wenn ich jetzt mal jeden Abend mehrere Flaschen Bier und Wein, Sherry, Rum oder, warum nicht, Whisky, Gin und Tonic brauche? Könnte ich dafür meine Nachbarn im Haus oder Freiwillige von nebenan.de einspannen, vermummt zum Späti schleichen oder besser einen anonymen Lieferdienst, der auch noch fair zu seinen Sklaven ist? Wie lange kommt der? Gabs da nicht grad die ersten Lieferandolo-Fake-Betrüger? Die Berliner Sozialsenatorin sucht nach Häusern, um Obdachlose zur Quarantäne unterzubringen, Nachschub für Suchtkranke zur „kontrollierten Drogenabgabe“ sollen dort erfahrene Sozialarbeiter besorgen. Meine Verlotterung schreitet rasend voran. Verwahrlosung, sehenden Auges wahrgenommen, lass ich mich gehen, mit ausgebreiteten Armen fallen, runter sacken. Da muss man ganz unten durch. Dieser Sonntag ist nicht der erste in dieser Woche, den ich ungewaschen im Schlafanzug verbringe. (Getting dressed for the livingroom.) Es gibt Linsencurry mit Brennnesseln, Basmati und Wildkräutersalat. Bei den Spaziergängen der letzten Tage habe ich so viel gesammelt, Scharbockskraut von der Wiese neben dem Friedhof auf der Stralauer Insel, auf dem D. liegt, dessen Witwe … die Stadtverwaltung schliesst 46 Friedhöfe, wegen Versammlungsverbot -, Wunderlauch aus dem Plänterwald, Brennnessel, Schnittlauch, Knoblauchsranke, Vogelmiere… dann alles im herrlichen neuen Mixer püriert und portionsweise  eingefroren, Pesto-Basis bis Herbst. Gestaubsaugt, Tiefkühlfächer geputzt. Die tauenden Klötze an Sauerkirschen vom letzten Frühjahr heb ich bis morgen auf mit einmachen. Bügeln vielleicht übermorgen, haushalten mit dem Haushalten. Zeitvertreib einteilen, Heimarbeit aufsparen. Haushalt, Haus halten, Hausarrest, unterhalten. Fängt es so an im Oberstübchen? Schon kursieren Wohnungsgrundrisse als Wanderkarten, Gänge zwischen Tisch und Fenster werden vermessen, Bett, Bad und Wasserkocher die Knotenpunkte eines Verkehrsnetzes. Romantipps zu berühmten Reisen im Zimmer (Xavier de Maistre, Reise durch mein Zimmer von 1794, Karl Markus Gauß, Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer, 2019). Zwei Schritte zum Kühlschrank. Wohnungen als Forschungsinseln, Erinnerungsschubladen, Milchkännchengeschichten , Desert Island Discs, Durst-Express.

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Stalinallee am Samstag

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„Gabenzaun“: Nachbarschaftshilfe für Obdachlose oder wie man das alte Winterzeug los wird und dabei noch Karmapunkte sammelt

 

Am Samstag war die Stalinallee voll. Wenige Autos auf der in jede Fahrtrichtung vierspurigen Magistrale, dafür so viele Spaziergänger wie selten zuvor. Die für menschliches Maß völlig überdimensioniert breiten Bürgersteige erlauben das Flanieren, Joggen, Radfahren, Kinderwagenschieben im jetzt verordnetem Abstand. Auch für Tische, Stühle und Strandkörbe der Restaurants und Cafés ist genügend Platz, aber die waren bis auf wenige geschlossen. Auf jeder Bank reckte eine einzelne Person   ihr Gesicht in die gletscherklare Sonne. Kleinfamilien und Pärchen verliefen sich. Am Strausberger Platz blühten Osterglocken. Eine Amsel sang angeberisch. Im Grünstreifen wuchs wilder Schnittlauch. Ein Kind kickte einen Stein.

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Stalinallee (gebaut 1961/62), Karl-Marx-Allee, Frankfurter Allee

 

 

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Spazieren gehn geht noch

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man sollte ja jetzt wieder mehr über Bücher schreiben, oder zuerst welche horten, solange die Bibliotheken und Buchhandlungen noch offen sind. Seit einigen Abenden freue ich mich an Laurie Lee, dessen Buch ich allein wegen seinem schönen Titel bewahrt habe. „An einem hellen Morgen ging ich fort“, ein Reisetagebuch seiner Wanderung als 21 jähriger Mann durch Spanien in der Vorkriegszeit 1935/36, publiziert 1969, wiederveröffentlicht 2016 im Wiener Milena Verlag. Mit einem Nachwort des immer inspirierenden Robert Macfarlane. Der junge Engländer wandert, wie sein Landsmann Patrick Leigh Fermor kurz zuvor, ab 1933 durch ganz Europa, als Vagabund mit leichtem Gepäck durch ein sonnenverbranntes, sturzarmes Spanien der Arbeitslosen und Hoffnungslosen, verdient sich manchmal ein paar Groschen mit seiner Geige als Straßenmusikant, schläft auf Feldern und in Billigpenssionen, gesellt sich zu Landstreichern, am liebsten aber streunt er allein durch die herben Landschaften der Sierras, der Weizenfelder bis zum Horizont, steigt über Gebirge und sieht zum ersten Mal das Meer. Ein träumerisches Buch, voll melancholischer Leichtigkeit, aus einer Zeit, in der europäische Grenzen noch kaum ein Thema schienen. Bis auf Gibraltar, da bekam der Brite sicherheitshalber eine Pritsche in einer Gefängniszelle zugewiesen, mit Speck- und Spiegeleifrühstück. Tagsüber hatte er freien Auslauf in der merkwürdig nebelverhangenen Enklave.

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Hallo, wie gehts’n so?

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Metropolis

Vorhin sah ich Michael in einer Ausstellung auf einem Foto. Daneben hingen Fotos, die er  gemacht hat. Er ist einer der Obdachlosen, die von einem Projekt der Projekt:Kirche mit einer von 42 Einwegkameras ausgestattet worden war, damit er seinen eigenen Blick auf seine Welt zeigen möge. Zur Eröffnung  gibt es Bionade und Salzstangen. In eine durchsichtige Box soll man spenden für die Kältehilfe der Stadtmission am Containerbahnhof. (Die kriegen Staatsknete.) Die Scheine knüllen sich in der Kiste wie bei einer thailändischen Mönchsbeerdigung. Michael ist nicht da. Wusste keiner, wo man ihn erreichen kann? Ist er erreichbar? Wo ist er? Nicht viele der Straßenfotografen  waren da. Sibylle ist verstorben. Der „Engel mit einem gebrochenen Flügel“ war da, gebeugt, immer noch elegant im Mantel und  Jackett. Dann sprachen total sympathische Leute auf einem Podium, Eine las ihre Dankesansprache vom Telefon ab, ihre kleinen Kinder gaben derweil keine Ruhe, die andere hatte eine Klappmappe für ihre Notizen, die sie auf einem Manuskriptständer befestigte und war auch ziemlich aufgeregt, ein bisschen wie aufm Land, in der Scheune eines von jungen Architekten für den Eigenbedarf gentrifizierte Hinterhof-Ensembles aus rohem Backstein. Die coole Anwältin und Grünen-Politikerin mit Migrationshintergrund sagte kluges  Lokalpolitikerzeugs, die Moderatorin brabbelte unbeholfen von Würde zurückgeben (?) und „Arbeit am Menschen“, der noch rechtzeitig gerettete junge Obdachlose begann zu erzählen und wollte nicht aufhören, die rosige Obdachlosen-Fotografin zupfte an ihren zu engen Bekleidungsstücken und betonte, wie total toll es sei, wenn wir alle mal mit einem Obdachlosen reden würden. Hallo, wie gehts’n so? Scheiß kalt heute, nich?  Und wenn der Obdachlose davon genervt ist, dass jetzt lauter erleuchtete, vegane Hipster ihn in einen kumpelhaften Schwatz verstricken wollen? Wenn er keinen Bock auf „kreativen Flow“ und Smalltalk hat und hier hockt und bettelt, weil er keine Beziehung eingehen kann oder will? Sobald es ins Kulturelle kippt, wird das ganze Gutmenschensein unerträglich. Ein dermassen krass woker Sozialarbeiter, blonder Dünn-Dutt, Hoodie, Asientrip-Armbändchen, so was von spitznasig vegan translucent und Yoga macht er sicher auch, lächelte heilig und redete aufrichtiges Gutmenschen-Blech. Am Schluss sollten wir unsere Sitznachbarin nach ihrem  Namen fragen und über eine vorgegebene Frage kommunizieren … nee, das ging echt zu weit.  Zum Glück passen die Fotos des zuvor erlebten  Kitschwolkenspaziergangs mit S-Bahnfahren nicht zum Text.

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Ah Berlin! Ostbahnhof Richtung Warschauer Straße

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Schmetterlinge aus Asche

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Halt in Laingsburgh in der Karoo, die Lok hat schlapp gemacht, wir können zum Laden und kaltes Wasser, Kekse und Biltong nachkaufen, nach ein paar Stunden gehts weiter.

Die weißen Schmetterlinge sind zurück. Es heißt, sie fliegen nach Madagaskar. Dort sterben sie dann. Wie Blütenblätter lassen sie sich auf den Dornbüschen der Karoo nieder, sie sitzen auf den Drähten, mit denen die Farmer ihr dürres Land eingezäunt haben, sie wehen bis nach Johannesburg in die von Migranten ohne Arbeitserlaubnis bewässerten Gärten der Weißen, sie wirbeln wie Flocken seiner Asche durch das Flirren der Hitze, tänzeln schwerelos über der staubig roten Erde. Warum wurde er nicht in ihr begraben? Das silberne Rad einer Windmühle ragt aus einer grünen Busch-Oase in den transparenten Himmel. Eine Postkarte der Verlassenheit. Alles Land ist eingezäunt. 1913 machten die Weißen ein Gesetz, den Landact, der sie berechtigte, alles Land für sich zu reklamieren. Die entschädigungslose Enteignung der Einheimischen wurde legitim. Könnte man dieses Gesetz und den durch es legitimierten Diebstahl heute nicht einfach wieder zu Unrecht erklären?

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Zäune bis zum Horizont, alles Land ist in Privatbesitz, für die paar Schafe oder Rinder der Farmer, es könnten ja irgendwann Diamanten oder Gold gefunden werden.,

Elfenbeinweiße Röschen  neben dem Schotter der Bahntrasse. Shrub. Gestrüpp, niedrige Büschen, wie hingeworfen über der harten Erde, Monate, Jahre können sie der Trockenheit trotzen, doch einmal dann blühten sie plötzlich, nach einem Regenguss, in dem wir in einem plötzlichen Fluss stecken blieben, da färbten sie die Karoo rosa, blasslila und sternleuchtend gelb mit ihrem Meer an winzigen Büten. Wieso Meer? Potfontain, Hopetown, De Aar, Wildebeest. Sind die bis zum Horizont und darüber hinaus reichenden Zäune gegen wilde Tiere? Sollen sie die Handvoll Schafe oder Rinder vor dem Ausbrechen ins Nichts hindern? Ausgebleichte Knochen liegen manchmal am Rand. Wieviele Landarbeiter braucht es, um diese endlosen Maschendrahtzäune, oft elektrisch geladen mit einer Solarzelle, so ordentlich Instand zu halten? Wohnen die dann in den knastartigen Hütten, wo es außer der erbarmungslosen Sonne nichts gibt? Haben sie Strom? Reicht ihr Sklavengehalt, um den zu kaufen? Haben sie einen Kühlschrank? Im Durchgang zu den Waggons der Sitters, der Sitz- Klasse, in der man keine Liege zum schlafen hat wie wir in der ausschließlich von uns Weißen gebuchten Touristen-Klasse, stehen fünf Farbige, dünne junge Kerls, die mich auf Afrikaans und halbstark grinsend um ein Bier anhauen. Alkohol war in den Townships geduldet, das macht die Birne matschig, Betrunkene begehren nicht auf. Dazu gab es Shebeens, informelle und illegale Kneipen in den Shacks, in denen zunächst selbstgebrautes Maisbier ausgeschenkt wurde, später das des staatlichen Brauerteimonopols, und Schnaps.

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Three Sisters. Wie haben die hier in dieser Mondlandschaft überlebt? Je näher wir unserem Ziel, Kapstadt, kommen, desto unwirtlicher wird  das Land, die Karoo ist Steppe, Halbwüste, flaches Land, steinige Berge erheben sich daraus, schwarzer Granit, schillernder Basalt, scharfkantiges Geröll, unbewohnbare Mondlandschaften. Diese zarten Schmetterlinge zwischen plötzlich grünen Bäumen an ausgetrockneten Flussbetten, gelbe Steinhaufen, silbergrau die kaum den Boden bedeckenden Dornenbüsche. Ein angetrunkener Bure, so ausgemergelt wie das Land, das ihn nicht reich gemacht hat, zetert im Zugrestaurant herum, weil der Zug Verspätung hat -, sechs Stunden nun?- und er nicht mit Karte bezahlen kann. Schrunden, wo nach Bodenschätzen gegraben wurde, aufgegebene Hoffnungen vernarben hier nicht in ein paar Menschengenerationen, Löcher, aufgerissene Haut der Erde, Ruinen verlassener Ansiedlungsversuche bleichen wie die Knochen verendeter Tiere in der Sonne. Und dann am Ende des Kontinents der Atlantik, unbarmherzig das Licht, brutal der Wind, ein Teppich aus glitzernden Muschelschalen, Sonne, die alles verbrennt.

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Melkbosstrand, nördlich von Kapstadt, im Hintergrund der Tafelberg mit Tischtuchwolke.

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Ausgeträumt

 

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Exit

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Keine Worte gerade. Das ist die Karoo. Exit steht auf der Tür des Zuges, der uns in zwei Tagen und Nächten von Johannesburg nach Kapstadt fährt.

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„An den Tod gewöhnen wir uns nie“. Chantal (rechts) hat ihren kleinen Sohn verloren. Sie möchte einen Flachmann Gordons, ihre Freundin Latiche nimmt ein Lager Light. So langsam der Shosholoza Zug durch die heiße Landschaft zuckelt, so schnell sind wir beim Existentiellen. Und keine zwei Minuten nach den Getränken gesellen sich zwei weitere durstige Frauen dazu. Die eine ältere Matrone hat kupferrot gefärbte Haare und schüttet sich erst Mal das übrige gebliebene Tütchen Zucker in die Hand.

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Der Wind blies weißen Sand von den Abraumhalden der Goldminen auf die Township. So nannten die Bewohner ihren Ort White City.

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An der Bucht

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Die Roma sind weg. Nur eine ältere Frau in vielen Röcken und Jacken eingepackt hockt an einem Feuerchen. Ihr Mann mit Ohrenklappenmütze schiebt einen beladenen Einkaufskarren durch den Dreck, vielleicht sind noch ein paar Verwandte unterwegs bei der Bettelarbeit. Die notdürftigen Behausungen sind verlassen, durch die Türverschläge aus Brettern, Latten und Planen sind Matratzen und gammelige Decken zu sehen. Vor manchen Eingängen liegen Teppichreste, die während der Besiedlung von den Frauen wie Vorgärten sauber gefegt wurden. Auch die Hoodies aus Trebegängern und jungen Obdachlosen im Lager daneben hocken auf Kisten und Planken um zwei, drei kokelnde Feuerstellen herum, sie trinken Sternburg, einer füllt Rotwein, recht guten gar, so weit ich es erkenne, in eine Plastikflasche um. Viele gepflegte Hunde streunen herum, auf einem Podest steht ein Eimer voll Schrippen, mit Käse oder Salami belegt, einzeln in Folie gewickelt. Die hat J. von der Wärmestube vom Kneipenkollektiv in der Rigaer soeben vorbeigebracht, er arbeitet bei Karuna, einer Hilfsorganisation für Straßenkinder. Bis letztes Frühjahr betreuten sie die Leute hier an der Rummelsburger Bucht mit einem Zelt, Klocontainern, Rat und Angeboten zur Sozialhilfe. Jetzt gibt es weder Wasser – die Bucht ist mit Schwermetall verseucht –  geschweige denn Rudimente von sanitären Anlagen, Müllentsorgung oder gar Strom. Wie lädt man sein Handy hier auf, wo scheißt man hin, wie putzt man Zähne oder wäscht sich auch nur die Hände?

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Anfang kommendes Jahr will der Bezirk Lichtenberg eine ehemalige Flüchtlingsunterkunft in Karlshorst hergerichtet haben und den Leuten des Camps hier zur Verfügung stellen. Niedrigschwellig, ohne Personalienerfassung, bis April zumindest. Ein Schlaks mit halbrasiertem Kopf winkt mich heran, ein Ledertyp bietet mir von den Brötchen an. Fast gemütlich ists ums Feuer. Ob wer aus der Gruppe in die temporäre Unterkunft umziehen werde? Das wisse hier keiner vom anderen. Sie lachen und kümmern sich nicht weiter um mich, eine blonde Frau mit Dreads und Nietenjacke spricht Englisch, es ist ein bißchen wie beim Ferienlager der Versprengten, die nach der letzten Band die Abreise vom Festival verpasst haben.

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Zelte und wild zusammengehauene Hütten lehnen aneinander, verbunden durch schräg verzurrte Vordächer aus Planen und Werbebannern, darunter zertretene Wiese, nackter Boden, aufgetaute Matschpfützen, Schmuddeldecken, Schlafsäcke, Ersatzzäune, ein Dorf, ein beinahe heimeliger Kreis um die Feuerstelle. Dazwischen aufquellende Säcke mit Altklamotten, Fahrräder, aus lindgrünen Plastiksäcken quellen alte Laugenstangen und Brezeln. Ein Ensemble aus Einkaufswagen ist kunstvoll zu einer filigranen Barrikade aufgetürmt. Beißender Rauch zieht in niedrigen Schwaden über der Müllszenerie. Ein Radfahrer mit einem Anhänger bringt noch mehr Tüten voll Brot vorbei.

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Über der Bucht zieht eine Möwenschar eine letzte Runde vor dem pathetischen Sonnenuntergang. Auf Hausbootclustern gehen die ersten Lampen an. Qualm schwelt über dem Gelände, mit der blauen Stunde kommt die Kälte.

 

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Wachdienst

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Sind die alle beim Friseur? Die Stadt ist wie ausgestorben, die Straßen leer. Selbst die zwei leichtbekleideten Damen vom Massagesalon sind in der Skybar nebenan. Milimeterscharf getrimmter Gesichtsbewuchs, epilierte Nasenhaare und ein kantig rasierter Schädel scheint bei den Kerlen hier im Kiez zur rite de passage zu gehören. Sauber schnittig möchte der Jungmann über diese vage Zwischenzeit kommen. Oder gehen die einfach zum Barbier, weils dort so jungsgesellig ist? Der Einzelgänger hingegen schiebt zur Dämmerung seinen großem Rollkoffer in den Münzswaschsalon. Im nüchtern ausgeleuchteten Schutzraum aus anonymen Kachelwänden schleudern Trommelmonster den Muff aus Klamotten und die Milben aus der Bettwäsche. Die Hüllen der Körper werden gereinigt, der alte Dreck muss weg, porentief clean solls nun ins Neue gehen. Zu blöd, dass all die krachenden Blitz- und Donnerschläge zur Vertreibung der alten Geister bald verpönt sind. Grauhaarige Frauen mit Knollennasen versorgen sich im Café Tasso mit letzten Vorräten an gebrauchten Büchern. Mir sagt keines zu, noch das Backbuch und der Thriller, den sich andere ausgesucht haben, wirken interessanter als die nett kategorisierten Reste („von Piraten und Abenteurern“) in den Regalen. Der Kaffee ist dünne Plörre und lauwarm. Vor dem Biomarkt kauert Michael, unter der Kapuze des Parkas schaut fast nur sein Nikolausbart hervor, die Mütze tief ins zerfurchte Gesicht gezogen, sein Rucksack mit Isomatte lehnt am Fahrradständer, der Wassernapf für Hunde spiegelblank. Auf dem eiskalten Boden liegt ein kleines Ringbuch und ein Bic-Kugelschreiber. Mit Großbuchstaben notiert er darin Stichworte für sein Drehbuch. Ein Berliner Road-movie, sagt er, der auf der Straße lebt und schnurrt ein raues Lachen dazu. Im Park sei es jetzt zu kalt zum übernachten, aber er kennt offene Haustüren. Er ist Profi-Penner, Gejammer kann er nicht leiden. „Das hab ich mir so ausgesucht“. Freiheit, schon, ja, seit vielen Jahren. Und nein, er bereut es nicht. Irgendwann hatte er mal eine Wohnung hier um die Ecke, vierter Stock, morgens runter, nachts wieder rauf, da war er auch den ganzen Tag draußen. Noch früher gab es eine Frau, wegen der er überhaupt aus Süddeutschland. nach Berlin gekommen war. Zu Weihnachten war er bei Bekannten, die haben sich dann gestritten. Knödel, Blaukraut und Gänsekeule, die kann er jetzt eine Weile nicht mehr sehen. Jemand hat ihm einen warmen Militärschlafsack besorgt, der hat Ärmel, für „Nächte im Wachdienst“. Seine Fingernägel sind lang, rillig, gelb und wie deformierte Krallen nach oben gebogen. Die alten Stiefel stinken. Wir hocken mit Filterkaffee aus Porzellantassen auf dem Bürgersteig. Niemand hat ihm seine Füße gewaschen. Gibt auch keinen Neuanfang. Vor Penny liegt Michael, alle heißen heute Michael, er kommt aus Sachsen und ist halb so alt wie der zauselbärtige Drehbuchdichter, auch er geht nicht in eine Notunterkunft, aus einem betreuten Wohnen flog er raus wegen Alkohol, er wird nicht damit aufhören, sagt er fast stolz, auch er ist schon nicht mehr gut zu Fuß. Sein Hab und Gut türmt sich in einem Einkaufswagen. Er wünschte sich ein Radio, jetzt sind die Batterien leer.

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Schnäppchenprinz

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Reset. Bei Dubai Gold herrscht Hochbetrieb. Auf dem vom Gerüst verengten Bürgersteig stauen sich Kinderwagen. Stiefel mit Kunstpelzfutter kosten 24 Euro, lachsfarbenene Killer-Pumps mit Paillettenbesatz im Ausverkauf 10. Vor Euro Gida stapeln sich Granatäpfel, Mandarinen und Ananas, zwei für 2 Euro, das Kilo 79 Cent. Auf den schmutziggelben Bodenfliesen im S-Bahnhof kauert eine klapprige Romafrau, den zerquetschten Pappbecher als Hindernis in den Weg der Passanten geschoben. Um die Ecke von ihr trinken fröhliche Männer mit Rollstühlen und Reisetaschen Bier. Bei Döner 44 stehen die Leute Schlange. Paare umarmen sich. Wie süß der Milchschaum auf dem großen Glas Kaffee schmeckt. Fast hätte ich ein Foto meines späten Frühstücks aus Sesamkringel und dem Schälchen mit gemischten Oliven gemacht. Ein riesiger Spiegel mit Goldrahmen reflektiert den hochhängenden Flachbildschirm, im Musikvideo erzählen blonde Glitzerbräute ein Märchen ohne Ton, das niemanden interessiert. Gemurmel erfüllt das Simit Elif mit Nestwärme, keine trägt Kopftuch, kaum einer schaut auf ein Telefon. Ein Graugelockter am Laptop verbrüht sich am Minztee. Auf der Straßenseite gegenüber wirbt der mit Billigklamotten vollgestopfte Laden wie eh für den totalen Indirim. Was für ein Glück, wieder am Leben teilnehmen zu können. Feiner Regen poliert den Abendasphalt, bunte Lichter tänzeln durch Auspuffwölkchen wie die Sufi-Derwische auf der Istiklal. Beirut 124 Euro, Varna 49, Gaziantep 79. Morgen, vielleicht, hol ich mir den Schnäppchenprinz und geh mit ihm ins Cafe Carisma.

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Suspended animation

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Es riecht nach geröstetem Kaffee am Ufer des Britzer Verbindungskanals. Hier wurde im Februar 1989 der zwanzigjährige Chris Gueffroy beim Versuch der Republikflucht erschossen. 

Auf dem Balkon der Nachbarn flappt ein weißer Sonnenschirm wie ein greiser Albatros mit den Flügeln. Die Albatrosse sind aus der Südsee, sie folgen einem Dampfschiff auf dem Weg nach Samoa. Dort sucht der Tagebuchschreiber Genesung, doch eine Lungenentzündung bringt ihn fast um. Die Samoanerinnen gefallen ihm nicht, das Essen ist eintönig, überall Fliegenschwärme, das Paradies ein Fiasko. Ich füttere die Spatzen und gieße Tee auf. Die Elster holt sich ihre Walnuss. Im Radio läuft Beethoven, das geht jetzt ein ganzes Jahr lang. Verarmt reist der Schriftsteller zurück nach Europa. In Sidney muss er Kaution für die Einreise seines chinesischen Dieners hinterlegen. Stevensons Grab hat er nicht besucht. Aber das Meer leuchtete wie geschmolzener Saphir.

(Marcel Schwob: Manapouri, Reise nach Samoa 1901/1902. Elfenbein Verlag)

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Besser werden

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Hat leider nicht funktioniert. Ich dachte, ich wäre durch die Lektüre von Katja Oskamps herzerwärmenden „Geschichten einer Fußpflegerin“ in „Marzahn mon amour“ ein besserer Mensch geworden. Deshalb nahm ich die M6 nach Marzahn und hoffte, wie sie dort solch liebenswürdig schrulligen Leuten zu begegnen. Aber ich liebe die Menschen einfach nicht genug, jedenfalls nicht die zwei munter in einer osteuropäischen Sprache quasselnden jungen Mütter mit ihren angeklebten Fingernägeln und ihren rosafarbig gerüschten Blagen, deren Geplärre sie mit Tüten voll Junkfood stopfen, nicht die topmodisch ausstaffierte Kurzhaarige, die ihre Querelen mit dem Jobcenter für alle Mitfahrer unüberhörbar am Telefon verhandelt, nicht die übergewichtigen Mädchen mit ihren engen falschen Markenjogginghosen, nicht die nach abgestandenem Rauch riechenden Männer, und den Mief von alten Schuhen und Käsefüßen, von Müdigkeit, Armut und ungewaschener Hoffnungslosigkeit, der einzelne verdreckte Handschuh, das fallengelassene Kekspapier, den Kaffeebecher in einer braunen Pfütze auf dem Waggonboden, das alles mag ich auch nicht. Besser die Welt durch Bücher gernhaben: „Nebel hängt wie Rauch ins Haus / drängt die Welt nach Innen / Ohne Not geht niemand aus / Alles fällt in Sinnen. …“ (Novembertag, Christian Morgenstern)

Die Lobhudelei zu Katja Oskamps wunderbaren Buch „Marzahn mon amour“ ist auf    Spätlese 

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Wir sind Du

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Meine Lieblings-Wärmstube mit Kaffee und allen erdenklichen Zeitungen, die AGB, hat zu. Vor der Heilig-Kreuz Kirche nebenan stehen Leute, drinnen findet die Nationale Armutskonferenz statt. Unangemeldet – ich wollt nur aufs Klo – bin auch ich willkommen, bekomme Kugelschreiber, Block und Infomappe, es gibt Orangensaft und belegte Brötchen. Die Vertreter der Hilfsorganisationen sehen nicht aus wie Funktionäre, ihre Ansprachen sind kurz, schnörkellos freundlich, „Wir sind Du“, unter den Teilnehmern schöne Rauschebärte mit langen silbernen Haaren in Schlabberpullovern, Krücken, ein Rollstuhlfahrer, aufrechte Kämpferinnen, vom Leben gezeichnete Gesichter. „Der Würde eine Stimme geben“ heißt ein Programmpunkt. „Die Bedrohung geht von den Mächtigen aus, nicht den Machtlosen“, sagt „Ich bin der“-Erich. Und „existentielle Unterversorgung bedeutet radikaler Ausschluss von Teilhabe“. Für die Workshops gehen wir um die Ecke ins Gebäude der Arbeiterwohlfahrt. Konferenzräume mit Resopaltischen und hellen Holzstühlen, Kaffee und gute Tees. Professor Antonio, schwarzer Dutt, berichtet von einer an seinem Institut durchgeführten Studie zur subjektiven Dimension von Armut. Wir gruppieren uns zu vier Themen, Schuldenfalle, Alleinerziehend, ich nehm das mit psychischen Krankheiten. Dann dürfen wir Punkte sammeln, Antonio malt Stichworte mit grünem Marker auf ein plakatgroßes Blatt und verbindet sie schwungvoll mit Pfeilen. „Was wollen Sie uns eigentlich sagen“, platzt es aus einem aufgewühlten Mann in kurzärmeligem Shirt und zwei Handvoll Stiften in der Brusttasche. Er ist Mathematiker und will nur kurz sein grafisches Modell einer Steuerprogression vorstellen. Damit könnte der Unterschied zwischen Arm und Reich quasi abgeschafft werden! Er ist ungehalten, seit zwanzig Jahren hört ihm keiner zu. Hier auch nicht. Ein zarter, ganz filigran aussehender Zausel flüstert in seinen Wichtelbart etwas vom System, von böswilligen Öffnungszeiten der Sozialämter, so leise dass ihn kaum einer versehen kann. Das System, brüstet sich ein dritter Profibetroffener nun verächtlich schnaubend, das habe er seit zwanzig Jahren erfolgreich unterwandert. Eine vornehme Wienerin erzählt, dass Depression stigmatisiert und einen weiter ausgrenzt, es droht beim Jobcenter das „ausgesteuert werden in Erwerbsminderung“, weshalb Verheimlichen von (armutsbedingtem) Psychostress besser sei. Zurück in der Kirche gibt es Kaffee und buttrigen Blechkuchen, danach stellen sich ein paar Projekte und Initiativen auf der „Plattform für Vernetzung“ vor. Ein Vereinsvorsitzender bietet Modelleisenbahnbauen als Therapie zur sozialen Reintegration an, ein junger Typ mit einem dicken Stapel Papieren empfiehlt drei Bücher: „Wohnen ist ein Menschenrecht, lest mal den Hans Jochen Vogel.“  Im September 2020 soll ein Euromarsch von Berlin über Brüssel nach Paris stattfinden, „wir leben aus dem Rucksack, einfach eben, aber wir spüren uns!“ heißt es im Flugblatt des Organisationskomites. Zum Schluss bekommt auch Martin noch das Podium. Seine auf einem Stick gespeicherte Computergrafik des progressiven Steuermodells erscheint auf die Leinwand hinter ihm, er artikuliert seine seit langem einstudierten Sätze perfekt, mit beiden Händen ausholend wie ein Dirigent unterstreicht er seine Worte, ein Marx-Zitat, er kommt in Fahrt, doch da unterbricht ihn schon die geblümte Moderatorin von der Kölner Caritas. Sozialpädagogisch charmant lädt sie ihn und alle jetzt zum privaten Austausch bei einem Glas Sekt ein. Es gilt 25 JKahre BBI, Bundes Betroffenen Iniative, zu feiern. Ein Tischgenosse verrät mir, wie man an die Sparpreise bei der Bahn kommt, sein Kumpel fuhr mit dem Schwerbehinderten-Nahverkehrsticket gratis, 18 Stunden in Regionalzügen, eine sportive Rentnerin aus Freiburg stößt mit mir an, derweil ihr Begleiter in blasslilanem Sommeranzug ihr unverdrossen weiter die letzten 280 Fotos im Display seines Fotoapparats zeigt. Als ich hinaustrete ist es Nacht geworden, Blätter schwimmen im schwarzen Landwehr-Kanal, die Straße glänzt.

Immer noch hängt in der Heilig-Kreuz-Kirche die Ausstellung mit Portraits von Obdachlosen. Auf FB postet die Fotografin Debora Rupert heute, dass Omar, der ein Pappschild mit „Weldfrieden“ vor sich hält, vor kurzem, in einer der ersten Frostnächte am Arnimplatz, mitten im reichen Prenzlauer Berg,  gestorben ist. 

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Im Spatzenbad

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An der Spree eskortiert mich eine Schwanenfamilie. Wenn ich zu lange stehen bleibe, warten sie, kehren sogar um und drehen bei, bis ich weitergehe am Ufer neben ihnen, sie schwimmen genauso schnell  wie ich langsam bin. Vater, Mutter, Sohn (?) noch in graubraun, daher käme der Spruch vom hässlichen Entlein, sagt eine Mutter, die hinzugetreten ist. Ihr Kind im roten Anorak ist das Signal für ein Dutzend Enten, die im Tiefflug angedüst kommen und Gischt pflügend abbremsen. Nein, wir füttern nicht. Auf der Brücke zur Insel der Jugend posiert eine Blondine in hochhackigen Stiefeln für zwei knipsende Begleiter. Der Wald irrlichtert in gelbem Leuchten, Kindergebrüll hallt durch die Tunnel aus Moos. Ein übergewichtiger Junge stapft mit Nervmusik aus umgehängter Bluetoothbox des Pfades, seine Freundin schaut stolz zu ihm auf. Die Baumschaukel am Abenteuerspielplatz ist weg. Am Ufer stehen Bänke, das Wasser glasklar, man kann jedes Blatt am Grund erkennen. Über den Himmel ziehen hellgraue Wolken, kreisen da Bussarde?, kann man sich mal hinlegen?, der Beton ist kalt. Es wird dunkel. Im Supermarkt gibt es Chalwa mit Vanillegeschmack aus Polen. Das Ketten-Kino im Sonycenter am Potsdamer Platz kann die Miete nicht mehr bezahlen und schliesst.

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Sieben Mal wirst Du die Asche sein

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…aber einmal auch der helle Schein“. Muss mir dieser blöde Schlager jetzt durchs Hirn ballern, nur weil sein Dichter, Helmut Richter, er war Traktorist, Landarbeiter, Maschinenschlosser, Physiker, später Direktor des Johannes-R.-Becher-Instituts, gestorben ist und wir in unserer freundlichen Stimmung das Lied von Karat nachgehört haben? Ausstellungseröffnung einer sehr lange schon ehemaligen Freundin, Wendefotos in tristem Schwarz-weiß, über 25 Jahre ist es her, dass wir nachts auf der Warschauer Brücke den Gleisen nachsahen, in Istanbul ein Fest machten oder in einem hellblau gekachelten Imbiss im Bahnhof Friedrichstraße saßen. Ihr Mann fragt mich in wenigen Sätzen alles ab, Arbeit, verheiratet, rauchst du noch. Seine Augen schön wie früher, sein Geruch alt. Sie aber lässt mich stehen, sobald der nächste Bekannte reinkommt. Steh ich da. Wie ein blöder Clown. „Von der Welt durch Gelächter getrennt“. Aber es lacht keiner und die Welt ist auch nicht da. Besser ich geh auch. Unter der U-Bahnbrücke am Kotti werfen Männer in leuchtenden Warnwesten Müll in einen Container, sie hantieren ungeschickt mit einer Schubkarre herum, von ihrem roten Einsatzwagen wird irgendwas verteilt. Die Nacht glänzt, ich setze mich bei Crunchy Pizza auf die Gasse und trinke ein Bier. Danke Oma, sagt der junge Mann, als er mir das Wechselgeld gibt. Geh ich jetzt öfter hin, vielleicht. Viel leicht.

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Nicht wartezimmerfähig

 

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Sofas sind schon da

Ich war in einer großen Stadt. Der Vollmond schien, gelbe Züge und Bahnen fuhren die ganze Nacht. An den Umsteigebahnhöfen wird musiziert und es gibt Drogen. Ein schlaksiger Kerl um die Zwanzig singt „Forever Young“. Bedröhnte Alte tanzen beseelt um ihn herum, er sorgt sich ein wenig um seinen Gitarrenkoffer und die filigrane Anlage, auf der er mit dem Fuß die Rhythmusapp bedient. In einer Kirche ein paar Stationen entfernt wird eine Ausstellung mit Obdachlosenportraits eröffnet. Auf einem Podium erzählt die Fotografin Anekdoten, der ehemals Obdachlose berlinert, der Lokalpolitiker menschelt, der Sozialpraktiker differenziert. In Berlin gibt es keine Obdachlosenstatistik, die sind ja auch so schwierig zu zählen, haha, fragen Sie doch uns, sagt der Leiter des Trinkerwohnheims in der Nostizstzraße. Bei 50 Prozent der Leute sei der Krankenversicherungsschutz relativ leicht reaktivierbar, das Problem, neuer Begriff: „nicht wartezimmerfähig“. Was er auf der Straße am meisten vermisst habe, wird der  „Gerettete“ gefragt: „Nüscht!“ Jetzt arrangiere er sich langsam mit einer Wohnung, zwanzig Jahre, legt er nach, habe er super in der Charité gewohnt, den kurzen Dietrich immer dabei, mehr verrate er nicht,“Ehrenkodex der Straße“. Ein Rentner in weißem Freizeitanzug findet, man müsste auch mal was gegen die Roma-Gangster tun. Stellt sich danach jovial zu den bärtigen Rotweingesellen an den Tisch, tolerant sind die. Ein Trio spielt Space-Musik, leg ich mich echt auf den Holzfußboden vor der Orgel lang hin. Bin ich die Einzige, die sich verhält wie ein Penner?

Ausstellung: Kein Raum, Fotografien von Deborah Ruppert, Heilig-Kreuz-Kirche, Zossenerstr. 6 

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Woanders ist es auch ganz schön…

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Wir erinnern uns. Auch dieser Satz wurde anderswo schon gut benutzt. Heute herbstelt es heftigst (hehehe) in Kleinbloggersdorf, vieles passt zusammen. http://finbarsgift.wordpress.de/2019/09/26/herbstbeginn/ Deswegen hier ein paar schöne Zitate mit links – jaa, ich wollt auch endlich mal eine Blogroll einrichten. Kommt Winter.

„Im Zug dahinfahrend, die Stimme des ehemaligen Kommilitonen im Ohr, werde ich einmal mehr erinnert an das wunderbare Logion 42 aus dem apokryphen Thomasevangelium, das mich seit den Tagen meiner Tübinger Studien begleitet, das ich oft zitiert und in den heiligen Wind gesprochen: »Ait Iesus quia: Estote praeterientes / Jesus sprach: Werdet Vorübergehende«; werde ich gleichermaßen erinnert an das nicht weniger oft zitierte Epitaph des William Butler Yeats: »Cast a cold eye / On life, on death / Horseman pass by«. Auf dem First eines Dorfrathauses sitzt eine einzige Dohle.“

So schreibt der Landpfarrer aus meiner Heimatgegend: https://tagebucheineslandpfarrers.wordpress.com

Auch die gute Wildgans von „Lese und Lebensdinge“verweist auf ihn, wobei sie über „das Wenigerwerden aller Dinge“ sinniert. „Zum Beispiel das Befreiende beim Mülleimerdeckelschließen. Sachen versenken, es wird eh alles verbrannt.“ https://wildgans.wordpress.com

Oder gleich ein GedichtFionka von „Schreiben und lesen lassen“ zitiert eins von Theodor Storm, so leicht und lapidar kanns auch gehen:

Kaum zittert durch die Mittagsruh
Ein Schlag der Dorfuhr, der entfernten;
Dem Alten fällt die Wimper zu,
Er träumt von seinen Honigernten.
– Kein Klang der aufgeregten Zeit
Drang noch in diese Einsamkeit.

Theodor Storm: Gedichte
https://fjonka.wordpress.com

Topp, da geht noch was: Hermann Hesse etwa, dessen Gedichte „Die Welle“, das Maren Wulf von „Orte und Menschen“ zu Wellenbildern montiert. https://orteundmenschen.wordpress.com

Und wie ein Lied am heißen Straßenrand
Fremdtönig klingt mit wunderlichem Reim
Und dir das Herz entführt weit über Land –

So weht mein Leben flüchtig durch die Zeit,
Ist bald vertönt und mündet doch geheim
Ins Reich der Sehnsucht und der Ewigkeit

Bevor es jetzt zu klebrig morbid wird, noch was quasi seriöses. Der Sinn des Lebens besteht darin, ein Niemand zu sein:

https://qz.com/987109/the-purpose-of-life-is-to-be-a-nobody/?utm_source=facebook&utm_medium=qz-archive&fbclid=IwAR3wnwkMfrh9_PDmuiOsXUftIFPC1is3JUzsaPnXCuDBQFZsDKxl4ko77aU

Verschwindsucht allerorten, auf jetzt.

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Draußen war Sommer

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Kann man Ausgrenzung schöner ausdrücken als in diesem vollkommenen Dreiwortsatz? Er ist vom Schriftsteller  Albrecht Selge, der unter anderem den „Blog Hundert11-Klassikmusikblog hundert11.net betreibt. „Der Landschaft ist ja alles recht“ – noch so ein toller Satz  aus seinem wunderbaren schmalen Roman „Fliegen“. Er handelt vom leisen Verschwinden einer kleinen Frau, die kein mehr Obdach hat, aber eine Bahncard100. (Mehr dazu nebenan auf https://vogelsspaetlese.wordpress.com/. Ich muss dringend wieder mal Zug fahren. Und Bücher lesen voller Sätze zum abschreiben.

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Schöne Bilder

Stadtauswärts. Landsberger Allee, Lichtenberg Richtung Marzahn

Am Freitag war Lange Nacht der Bilder in Lichtenberg. Den Veranstaltungstipp gabs vom Fotoblogger Stadtauge. Dessen unterkühlte Stadtansichten haben mich schon öfters bei Spaziergängen in besonders öden Stadtgegenden inspiriert und manchmal hab ich den Verdacht, dass ich versuche, seine Ästentik zu imitieren. Aber es gibt mehr von uns und Geschichte eh. Das ist schon Stil, das Mülleimerstillleben ein eigenes Genre, Kunst seit der Schönheit von Heizkörperverkleidungen (Kapielski) und dem Ungeschick der Dinge (Rutschky?), wobei man die beiden eigentlich nicht zusammen in einem Satz nennen sollte. Jedenfalls sind – vielleicht aus Rache am Glatten – in den Massenmedien FB und Instagram die Fotos besonders trostloser Ecken, pittoresk verlassener Buden an von allen guten Geistern verlassenen Ausfallstraßen (Christian Y. Schmidt, Autor des Romans „Der letzte Huelsenbeck“ über einen Hobbyornithologen) von städtischen Nischen und zugigen Plätzen gerade in – oder fallen mir sie vermehrt auf. „Das Schöne, Schäbige und Schwankende“ von Brigitte Kronauer handelt auch irgendwie von einem Ornithologen, aber das führt jetzt echt zu weit ab. Seine Serie „Schöne Orte“ will der Autor Björn Kuhligk gerade per Crowdfunding als Fotobuch im „modernen, urbanen Querformat“ bei mikrotext publizieren, ab 40 Euro mit Kunstdruckposter. Genau, ich wollte ja berichten über meinen Ausflug zur Kunst. Freitag Abend also auf nach Marzahn. Eine Dame in Gelbweste führt eine Besuchergruppe durch eine labyrinthische Flucht von Ateliers. Im Tross ist es nicht so schrecklich, die Künstler und ihre zuvor noch nicht allzu öffentlich präsentierten Werke in ihren Räumen zu besichtigen, mal mit Schlaflager, Wasserkocher, ein alter Sessel, Farbpigmente in Instantkaffeegläsern, vor allem kann man sich in der Gruppe wieder verdrücken, ohne was blödes oder verlogenes über die Kunst gesagt zu haben. Nur an die Weintrauben traut sich keiner, von den Künstlern so erwartungfroh in kleinen Schälchen aufgetischt. Die Führerin erledigt die Kunst-Konversation, mit Seitenblick auf ihr Klemmbrett spricht sie gewandt von Raumerfindungen, von Luft und Wasser, Dynamik ja?, die kubanische Malerin lächelt zustimmend, im Studio nebenan tänzelt eine sehnige Frau in schwarzem Kleid und Papiermaske eine Säbelchoreografie, bei einem expressiven Maler aus Madrid gibt es Salzstangen in einem Glas, complicity, seduction, joy, fear und melancholy, perversion, brutality steht auf einem Flyer zu seinem Werk, zur Selbstvergewisserung greift er sich eine Handvoll metallener Spachtel vom farbfleckigen Tisch, seine Pinsel sind sauber auf dem Fenstersims verräumt, eine Chinesin hat ein Tellerchen mit Kartoffenchips inmitten ihres verträumten nachtblauen Universums aus Öl und Tintenzeichen angerichtet, niemand kommt, im Studio eines israelischen Malers mit Caravaggioaugen, keine Trauben hier, verstärkt leise Ambientmusik vom Laptop den Sogeffekt in die Tiefen seiner riesigen Farbfeldmonochromien, ein strubbeliges Paar zeigt gespiegelte Videos von strudelnden Wasserfluten und hält sich aneinander fest, bei einem Bildhauer mit lustigen Werktiteln steht eine mobile Doppelkochplatte, Weingläser, ein Topf Zwiebeln, seine Frau werkelt auch in Objekten, er bietet an, gute Preise zu machen. In der Toilette auf dem langen Flur bittet ein Schild, Farbe nicht ins Waschbecken zu schütten und kein Klopapier zu klauen. Von einem mit Kupferplatten vollverkleideten Raum hallt Technomusik herüber. Violette Discobeleuchtung, zwei alte Sofas, paar Bierflaschen künden vom Willen, hier Party zu feiern. War schon, kommt noch was. Kein Getränkeausschank. Ich habe gesehen, wozu ich kam. Raum, Luft, Geschichte: Die Ateliers befinden sich in einem funktionalen, 1985 errichteten Gebäudeklotz im ehemaligen mitlitärischen Sperrbezirk der Staatssicherheit in Hohenschönhausen. Gegenüber das Stasigefängnis, von den Sowjets 1951 der Geheimpolizei der DDR übergeben, heute Gedenkstätte, mit Wachturm, Stacheldraht und jenem fahlen Licht, in dem es keine Nacht und keinen Tag gibt. Die „Studios ID“, was für Intelligence Department steht, dienten früher der Entwicklung, Produktion und Instandhaltung von Spionagegeräten. Kameras, Wanzen, Überwachungsanlagen, Tarnausrüstungen, gefälschte Pässe, Taschen mit Geheimfächern usw. Bei den Künstler hat der Genius loci des OTS, des Operativ Technischen Sektors, keine für mich ersichtliche Wirkung hinterlassen. Der Kupferraum abhörsicher, mein Knips-Telefon auf Empfang.

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Otto III.

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Ein Spaziergang, durch Wald und an einem Seeufer entlang, an einem Ort ohne die Nähe von Nachbarn, ohne Geschichte und Erinnerungen. Mit der S-Bahn zur Endstation, rumlaufen, von einem anderen Bahnhof wieder zurück. In Strausberg war ich noch nie, sieht nah von „im Grünen“ aus. Der Jakobsweg, das lerne ich dann, führt hier lang. Erst nach der Wende wurde die Lücke des Pilgerwegnetzes auf beiden Seiten der Oder wieder geschlossen. Überregionaler Knotenpunkt war Frankfurt (Oder), die Pilger des Mittelalters benutzten auf dem Weg nach Santiago de Compostela gern gut ausgebaute und stark frequentierte Handels- und Heeresstraßen. Hier lief einer der ältesten Postwege, die Berlin mit Schlesien,  von der slawischen Burg  Köpenick über Lebus nach Posen führte. Ich erfahre das erst auf einem etwas verwitterten Schild am Uferweg. „Schon im Jahre 1000 nutzte Kaiser Otto III. bei seiner Rückkehr von Gnesen nach Magdeburg diesen Weg.“ Daneben sagt ein Piktogramm, Hunde sind anzuleinen. Strausberg Nord war mal als Armeebahnhof gebaut, weiß ich aber da auch noch nicht und so seh ich auch nichts von möglichen ehemaligen Kasernenbauten. Paar Einfamilienhäuser mit Gärten und Garagen, Autohaus, Fahrradweg, Ausfallstraße, eine dicke Frau mit gemusterter Bluse zieht beschwerlich einen Einkaufskoffer hinter sich her, dann ist man schon draußen,  Sonntag im August Landkreis Märkisch-Oderland. zwei Rufro Eintritt für Erwachsene beim Roten Hof, Kinderbauernhof mit Streichezoo, Tipis, Pferden und Bewirtschaftungen. Ein Hahn kräht. Und nochmal. Das hab ich schon lang nicht mehr gehört. Ein lichter Weg geht durch ein Wäldchen, es duftet betörend nach sonnengewärmtem Harz, alle paar hundert Meter stehen Bänke auf kleinen Lichtungen, niemand da, ein weicher Teppich aus Kiefernzapfen federt unter meinen Schritten, Licht blinzelt, ich pinkle mir einen Hosenbeinsaum nass. Sandige Buchten säumen den Straussee, Sonntagsidyllen wie gemalt, Picknicktaschen und aufblasbare Schwimmtiere, Familien auf Fahrrädern. Väter in Badehosen hüpfen von weiß skelettierte Baumstämmen ins hellblaue Wasser, zwei Bikinifrauen treiben auf einem Tretboot zum Ufer, eine macht Fotos, eine guckt auf ihr Smartphone. Ein Frau im Schatten liest ein Buch. Jungmänner mit prallen Oberschenkeln tragen Bierflaschen spazieren. Auf gemusterten Handtüchern sitzen Paare beieinander. Mein Schwein pfeift.

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Zen im Schrebergarten

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Das Gartenlokal hat neue Bewirtschafter, sie machen jetzt Jazzfrühschoppen. Wenn nur der Kaffee besser wär. Elektronisch verzerrter Gesang zieht weit über die Parzellen. Vom Friedhof weht Glockengeläut herüber. Feiner Regen fällt. Die Schnecken machen sich zum Sonntagsausflug auf. Vier rostrote Wegschnecken (Arion Rufus) setzte ich mit den gleichfarbigen Fauläpfeln auf die Miste. Sie mögen das. Der Komposthaufen ist neu, die Bretter zum Zusammenstecken gab es fertig als Set im Obi. Ich muss ihn noch dauernd aufsuchen, die tortenartigen Schichtungen begutachten, neue hinzufügen. Ich gieße ihn auch. Humus ist heilig. Totholz, auch schön. Insektenhotels gibt’s hier natürlich nicht.

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Long time no see

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Pförtnerhäuschen (1936 gebaut) des Central-, Vieh- und Schlachthofes (1881-1990) Berlin

„Die Zeit der vielen Falter ist gekommen.“ Muss ich jetzt schon Hermann Hesse lesen, um einen guten Satz zu finden. Er habe „zu Schmetterlingen und anderen  flüchtigen und vergänglichen Schönheiten immer ein Verhältnis gehabt, während dauerhafte, feste und sogenannte solide Beziehungen mir nie geglückt sind“, schrieb der Fernreisende aus Calw  in einem Brief von 1926 (Insel Taschenbuch). Im Apfelbaum zanken sich lärmend zwei Ringeltauben, sie schlagen mit den Flügeln um sich, zetern panisch, dann hektisches Geraufe und Übereinander herfallen, Vögeln als Vergewaltigung. Junge Kohlmeise spielt Specht und pickt auf dem Fensterladen herum. Der Eichelhäher kommt mit der ganzen Familie zu Besuch, vier Junge plantschen in der zur Vogeltränke umfunktionierten Obstschale aus Keramik. Zwei, dann drei Distelfinken checken die Kornblumengarbe im Gras nach samen aus.  Im Dornengestrüpp der ungebändigt wuchernden Heckenrose ist Spatzenversammlung.  Der Gartenrotschwanz wippt auf den dünnen Zweigen des Pfirsichbaums. In der Dämmerung  pesen zwei Fledermäuse Achter über meinem Kopf. Vogelbeobachtung macht glücklich. Guck an: Aus dieser spektakulären Einsicht heraus installiert der Landesbund für Vogelschutz (LBV) derzeit in über 40 Pflegeeinrichtungen Vogelfutterhäuschen, damit die Dementen und Verlassenen was zum Freuen haben. „Es geht darum, Naturerlebnisse zu schaffen und damit dem Verlust von Lebensqualität entgegenzuwirken“,  sagt LBV- Projektmanagerin Kathrin Lichtenauer. Sie meint das so. Glück ist die triefende Süße eines überreifen, vom Gewitterregen der Nacht heruntergeschüttelten Pfirsichs zum grünen Tee aus dem Asialaden im Wedding.  Ist das ein Zustand der Gelassenheit oder einfach nur das dumpf saturierte Sein? Die ersten Wespen sind da. Der Spätsommer beginnt. Die Brombeeren am Hohlweg entlang der Gleistrasse aber sind alle vertrocknet. Die Nachmittagssonne heizt noch, Eisessende Mädchen und abgeschaffte Ehepaare sitzen auf der Steinplattform um den Springbrunnen am Storkower Bogen, stoisch trotzen sie dem Ensemble urbaner Tristesse ihre Daseinqualität ab. Fusspflege, Orchidnails, Tabakbörse. Sonja Bistro, Bäckereikettencafé. Wimpern verlängern 50 Euro, Wimpern krümmen 40. Das Kreativkaufhaus Edelhoff entpuppt sich als riesiges Näh- und Bastelparadies. Im Glastunnel des „langen Jammers“ hallt das Brüllen eines Kleinkindes. Im Blankensteinpark liegen Fahrradfahrer mit nacktem Oberkörper auf der Wiese. Eine Krähe keckert von einer Birke herunter. Ein Dackel trägt eine Halskette aus Bernstein. Der Himmel ist weit. Ich habe einen Stein im Schuh.

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Nachtrag zu Read on, my dear, read on

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Sie war 31 Jahre alt, promovierte Historikerin, lebte in Dublin und schrieb den Blog Read on, my dear, read on. Im Mai wurde sie in einem Spiegel Artikel der „Fälschung“ überführt – sie hatte ihre jüdische Identität („ich bin der Jude“) samt vielen Familienangehörigen aus  Holocaust-Opfern erfunden und 22 ihrer vermeintlichen Lebensdaten bei Yad Vashem eingereicht. Jetzt wurde sie tot in ihrer Wohnung aufgefunden, Fremdverschulden wird ausgeschlossen. Ich war lange Zeit eine ihrer vielen Followerinnen, mehrere Hunderttausend sollen es gewesen sein, aber bei wordpress gab es meistens nur ein paar Dutzend Likes unter den Beiträgen. Als ihr Freund, der Tierarzt, letztes Jahr starb, war ich traurig. Etwas seltsam fand ich, wie sehr es mich berührt hat, wo ich ihn doch nur aus den Erzählungen in Read Ons Blog kannte. Befremdlich fand ich, wie sehr ich selbst  – neben dem Kälbchen, der Frau des Krämers oder der Mali Tant – schon im virtuellen Leben von Kleinbloggersdorf lebte. Aber so ergeht es mir ja auch oft beim Lesen von Romanen. Erdichtet bedeutet da ja nicht erstunken und erlogen, vielmehr steht es für gute, bzw.“fesselnde“ Literatur, wenn sie Empathie erzeugt und wir durch sie selbstvergessen in fremde Lebenswelten eintauchen können. Fraglos darf man sich in Blogs neue, andere Identitäten erfinden, ein anderes Leben mit anderen Geschichten ausdenken. Man darf unter Pseudonymen schreiben, sich neue Namen und Familien und Vergangenheiten geben, zu einer Person werden, die man im banalen „richtigen Leben“ nicht ist.  Wahrscheinlich, so hieß es bald, gab es auch den Tierarzt in Wirklichkeit ebensowenig wie die jüdische Großmutter von Fräulein Read on, wie sie sich selbst nannte. Aber was ist „in Wirklichkeit“? Der Tod? Der Text? Madame Read on, Marie Sophie Hingst, hat nach der Veröffentlichung der Anschuldigungen gegen sie ihren Blog vom Netz genommen, ihre oft wunderbaren Texte sind somit gelöscht. Das ist schade. Ihr Tod aber ist furchtbar traurig.

(PS: Diesen Song hatte Fräulein Read on kurz vor ihrem Sendeschluss auf ihrem Blog verlinkt, am 15. April 2019 hatte ich den Link dort von ihr übernommen.)

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Fräulein Read On

 

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https://www.irishtimes.com/news/world/europe/the-life-and-tragic-death-of-trinity-graduate-and-writer-sophie-hingst-1.3967259?mode=amp&fbclid=IwAR3iKc_HxcH5QX_9C5SolWT2ZLZTNXMFB0wfG9h33vRRLdJYapXlw9zcAao

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True Airspeed

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Doha, Katar

Verspätung und Umwege kommen mir gerade recht. Statt Heathrow bei Nacht sehe ich Doha am frühen Morgen. Infrastruktur in der Wüste, schnurgerade Straßen, die rechtwinklig im Nichts abbiegen, einfach enden, vom Sand verweht. Verkehrskreisel, Pisten, irgendwo fern von allem sieben gleiche Wohnblocks, vielleicht kommt da mal eine Stadt hin, eine jener auf dem Reissbrett geplanten, in einem Investorentraum visionierten Siedlungen, Olympiadorf, kommt FußballWM, zukünftiges Wasweißich-Zentrum, Modellstadt, Utopie, Las Vegas. Irrsinnn oder nur zu viel Geld. Der Flughafen riesig, mit Bahn zwischen den Terminals, Raucherlounge und Gebetsraum nebeneinander, die teuren Läden, goldene Designskulpturen, keine einzige Topfpflanze. Draußen ein Fleck dauerbewässerter Rasen in unwirklichem grasgrün, ansonsten eine unendliche Leere. Stacheldrahtumzäunte Quadrate um ausgebleichten Schotter, Antennenmaste, von der Sonne gehärtete Betonquader, lauter mögliche Quantanamos. No Entry. Wieso sind Landebahnen überall auf der Welt englisch beschriftet und wieso sind arabische Ziffern nicht arabisch? Die Route geht zunächst übers Meer nach Osten statt nach Süden, Muskat, eine andere Mondlandschaft, kahle zerklüftete Berge, die steil in hellblaues Meer fallen. Adam. ist das Aden? Plötzlich riesige Bergzüge, scharfkantig, in den Täler ganz vereinzelt Siedlungen, Serpentinen aus Sand, in denen einmal Springfluten und Ströme die schwarzen  Steinmassen geformt haben, als die Erde noch flüssig war, sie durch gewaltige Verschiebungen in Falten zusammengepresst und nach oben gedrückt wurde, lange bevor es Menschen gab. Hier ist die Erde noch immer unbewohnbar wie der Mond. Südarabische Halbinsel, Oman, Jemen, Sanaa? (Ein paar Tag später, so les ich, hat die omanische Autorin Jokha Alharti für ihr Buch „Celestial Bodies“ den Man Booker International Preis bekommen, er handelt von Sklaverei, die im Oman  erst 1970 abgeschafft wurde.) Nach einem indischen Frühstück schlafe ich endlich ein. Als ich aufwache, ist immer noch Wüste unter uns, goldgelbe Sandebene nun, Schäfchenwolken werfen Schattenflecken, Sahara, wird zur Steppe mit einem pickelartigen Bewuchs, durch den immer noch die rote Erde durchscheint wie Kopfhaut unter schütteren Haaren. Büsche, Bäume. Keine geschlossene grüne Decke, kein Wasser weit und breit, kein Wadi, wo mal ein Fluss gewesen war. Wo etwas wächst, fangen sofort Menschenspuren an, Straßen und Kreise, Umrandungen, Zäune, Felder. Richtung Mogadischu, einzelne Bewirtschaftungen, es werde rechteckig, dahinter das Meer, keine Palmen, keine Ortschaften, kein Mensch kann von Salzwasser und Fischen leben. Distance to Destination 2327 Miles, True Airspeed 905 kmh, Altitude 10,340 m. Es gibt Chips und Kitkat. Es wid grün, Mombasa, Sansibar, Daressalam, Mozambik. Dort die Flut.

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Nacht

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Puntland, Somalia

Du bebst vor allem, was nicht trifft,
und was du nie verlierst, das mußt du stets beweinen.
Goethe, Faust (1, Nacht)
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Caykovski

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Es riecht nach Orangen und frisch gemahlenem Kaffee. In der Unterführung zum S-Bahnhof steht ein Hauch Ammoniak in der Luft. Und Spargel, Granatäpfel, Erdbeeren, Honigmelonen und Trauben säumen den Bürgersteig. Caykovski ist ein Teehaus, „90 minutes“ ein Wettbüro. Donnerstags von 12-14 Uhr werden in der evangelischen Kirche Rixdorf Lebensmittel („Laib und Seele“) von der Berliner Tafel ausgegeben.  Im Trödel in der Flughafenstraße kostet ein Rollstuhl 25 Euro, Rollatoren 20. Der Senat lädt ein zum Müllsammeln und Baumscheiben bepflanzen. Hinter einem staubigen Schaufenster stapeln sich blasige, „Frische Gözleme“. Fußdeosprays und Fließverdünner für Diesel, 1 Euro, zusammen in Kisten auf dem Boden. Zwei bös aufgedonnerte Kopftuchmädchen mit Nagelstudiokrallen blinzeln schwerst bewimpert von einer Parkbank in die Sonne. In vollem Karacho pest ein Kleinkind auf seinem Plastikfahrrad auf die Straße, stürzt, brüllt, der morgenländische Nachwuchspimp im soft ausgebremsten Angeberauto tadelt die blondgelockte Mutti. Das Kinderbüro und Jugendrechtehaus Lessinghöhe erwacht gerade aus dem Winterschlaf. An der Ecke Morusstraße weist eine Indianerskulptur gleichgültig in alle Richtungen. Amseln im umzäunten Friedhof, Hundescheiße und ein zerfledderter Kühlschrank auf dem Gehweg. Zufall steht auf einer abgerissenen Tür, eine Genossenschaftswohnanlage mit Balkonen und Backsteinbanderolen an den senfgelben Fassaden.  Ein riesiger Wasserturm, Zufall steht als Graffiti auf einer Stacheldraht bewehrten Mauer. Eine Mutter mit schwarzgefärbten Haaren eilt entschlossen rauchend und zeternd vorbei. „Halts Maul Du Arsch“, sagt ein Vierjähriger zu seiner Freundin. An der „Farbtankstelle“ Ecke Hermannstraße gibt es Restposten an Auslegware, Kunstrasen in Rot, Blau oder Schwarz für 5.99 der laufende Meter, in Grün 4,99. Ein Graulanghaariger mit wenigen Zähnen fragt mich nach dem Weg zum Biomarkt und will mir behilflich sein, als er merkt, dass ich hier „fremd“ bin. SPD, Lara Fashion, Lidl. Kik, Euroshop, McGeiz. Blumen Melek (Engel), Juwelier, Mobile World, Lotterie, Tabak. Fünf schmalste Buden, Kiosk, kösk, nebeneinander. Döner, Gemüse Kebab, Pizza Rollberg, Jasmin Asia. Notgeile Jungs, die Eier zum platzen prall mit Testosteron, giggeln und kuscheln öffentlich miteinander. Eine alte Frau steht vor dem Einkaufstempel mit falschem Silberschmuck in einem aufgeklapptem Bauchladen. Schwer muss der sein. Sie friert, ihre Nase ist rot, die Augen müde, was für ein Scheißleben. Die paar Bänke in der Wärme der überdachten Einkaufsmall sind von älteren Frauen mit Kopftüchern besetzt. Ihnen gegenüber sitzen Kopftuchfrauen auf Rollatoren. Sie haben kein Geld fürs Teehaus. Bei Elif kostet das große Glas Tee 1 Euro. Der Sesamkringel ist knusprig. In den Musikvideos, die auf der Flatscreen in dezenter Lautstärke laufen, lutschen blonde Schlägersängerinnen wie zur Shampoowerbung dauernd das Wasser unter  der Dusche. Eine weißhaarige Dame schaut begeistert eine Soapie-Serie in ihrem Telefon. Es werden da viele Sprechchöre intoniert, manchmal schrecken wir anderen Teehausbesucher neben ihr kurz auf. Die zwei türkischen Rentner in wattierten Jacken, leicht müffelnd, einer mit Schiebermütze, palavern ungerührt weiter. Eine Frau trägt Modeschmuck, schwarze Plastikgehänge als Ohrringe, einer spannt das Kleid über den Hüften, einer anderem zipfelt der zu dünne Rock über den Leggings, das geliebte Kind ist übergewichtig. Fett und blöd. Kultursensibler Pflegedienst, heißt es an einem anderen Schaufenster. Back home again.

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Du hustest nicht allein

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Pieta vor der Wache – im Hof stehen Unfallautos

Die Katzen vom Shaman Bookstore in Chiang Mai lagern in laszivem Desinteresse zwischen und auf den Regalen des erlesenen Sortiments an Secondhand-Büchern. (Elephanta Suite von Paul Theroux gefunden.) Odalisque von Ingres fällt mir dazu ein, aber das liegt wahrscheinlich am türkischen Kardamom-Kaffee, den ich gerade auf dem Atatürk Flughafen von Istanbul trinke. Die Raucherterrasse ist ein luftiger, mit Maschendraht umgebener Käfig  und hängt wie ein Vogelhorst an der Fassade. Wie gerne würde ich mich zu den Männern in dunkelblauen Anzügen gesellen, eine Slimkippe schnorren und gedankenverloren auf das Flugfeld blicken, noch so eine Erinnerung. Worst pollution worldwide, titelte die Thaitimes über Chiang Mai. Der Air Quality Index (aqicn.org., neue Lieblingsseite) ist mit über 300 Punkten im violetten Bereich –  vor Dhaka, Ulan Bator, Kabul – danach kommt nur noch braun, bedeutet kurz vor Erstickungstod, jedenfalls wenn man eh schon aus dem letzten Loch pfeift. Waldbrände, abfackelnde Reisstoppelfelder, Smog und eine Hitze, die wie ein dicker staubiger Teppich auf dem  Land lastet, in die Straßen der Städte drückt und über den Bergen liegt, machen nicht nur Alten und Gebrechlichen das Luftholen schwer. Particular Matters, PM10, Messwert für Feinstaub, Bangkok bei 38 Grad 174:  Berlin heute 14. Seit der Besuch in einigen Tempeln von Chiang Mai Eindritt kostet, haben die Selfieo-Orgien abgenommen. Eine Gruppe älterer Frauen in schwarzen Spitzenkleidern und passenden Handtaschen kommt barfüßig herein, andächtig knien sie sich vor dem goldenen Altar auf den Boden. Im Tempel nebenan ist eine Leiche aufgebahrt,  stundenlang singen die Moönche ihren Sermon, es gibt Essen und  süßen Tee für alle, die Trauernden tragen weiß. Ein junges Nüttchen platziert sich vor die vornehmen Damen, freilich nicht zum Gebet, sie schüttelt die Haare zurecht und posiert für ein Foto, mit dem Rücken, oh weh, Tabu, Blasphemie!, mit den nackten Füßen, zum Buddha. Da kramen auch die schwarzen Witwen ihre Handys aus den Handtaschen und fotografiern sich reihum genauso. Im nächsten Tempel gibt eine weißgekleidete Nonne (?) einen dreistündigen Meditationskurs, Schwester Boa meditiert 15 Stunden am Tag und ernährt sich von wässriger Kürbissuppe. Damit heile sie sogar Zahnschmerzen, an der Schläfe hat sie ein talergroßes schwarzes Geschwür, das hat wohl auch seine Richtigkeit. Ich bin aus Versehen da gelandet, bzw nicht mehr rechtzeitig davon gekommen. Zum Einüben bewegen wir eine halbe Stunde die Hände und Unterarme in minimalistischem Ablauf, Hand auf Bauch, Hand aufs Herz. Dann laufen wir eine Stunde hin und her, ganz langsam, Schritt für Schritt, mit der ganzen Sohle den Boden berühren, Gewicht verlagern, ausatmen. Die zwei jungen Amerikanerinnen und eine Alleinreisende aus Prag können das ganz gut, Gehen-Meditation, in sich gehen, sich finden, mich finden vor allem drei Moskitos. Im Wandelgarten des königlichen Haupttempels hängen Kalendersprüche auf verwitterten Holztäfelchen in den Bäumen. Good to forgive, the best to forget. In einer silbrigen Blechschale liegen Briefumschläge für die Spenden bereit. Ein Mönch nimmt die Umschläge auf einem gelben Tuch entgegen, spritzt einem etwas Weihwasser mit einem Besen aufs Haupt, knotet Bändel ums Handgelenk, a glas of wine, a cigarette, and than its time to go…

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Shaman Bookstore in Chiang Mai

 

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An die Grenze gehen

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Der Schlagbaum.

Nachts brennt ein Berghang, niemand kümmerts,  keine Feuerwehr, keine Straße dorthin, kein Bach, ein chinesisches Tomatencurry und ein Bier beim Schnaps trinkenden Mr. Ho und ein paar Stunden später ist das Feuer von selbst ausgegangen, die Luft noch rauchverhangener, die Berge auch tagsüber kaum mehr zu sehen. Im lichten Laubwald ist es schattig und etwas kühler, im Dorf hinterm Tempel, 712 Stufen hoch über dem Oolong-Tee-Dorf Mae Salong, wird Kaffee angebaut. die Bohnen liegen zum Trocknen auf Bambuspodesten im fahlgelben Licht, die altertümlichen Zahnradmaschinen zum Kaffeebohnenwaschen stehen still. In einem Bambuskäfig hüpft ein kleiner Rabe. Noch ein Dorf  höher und weiter windet sich der Weg durch zauberischen Dschungel. Limousinenhafte Pickups transportieren Jutesäcke voller Kaffeebohnen ab, Mopeds mit Schulkindern knattern vorbei. Winzige Vögel zwitschern, als würde jemand mit einem Löffelchen auf ein Heizungstohr klimpern, ein größerer wirft sein Kiwitt in die Runde und bekommt Antworten, ein Sound,  als ob im Nebenhaus das Radio liefe, Grillensirren,  schwarzweißgeszreifte Schmetterlinge,  weiße Weihnachtssternbäume, hier gibt es keine wilden Tiere. Eine rotgestreifte Bambussperre markiert die Grenze. Birma sagen ein paar schwarz Uniformierte, lässig baumeln ihre Gewehre, fotografieren darf ich, weitergehen nicht.

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lokaler Transport

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Durchgangsstationen

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In Tha Ton endet  der Linienbus, mit einem Bötchen könnte man den Mae Kok hinunter nach Chiang Rai fahren,  weiter in die Berge hoch geht es mit Song Thaews, den klapprigen Pritschenwagen,  Aber erst am kommenden Tag.  Durchgangssationen sind oftmlas gute Orte zum Innehalten. Bei Station 4 des Pilgerwegs den Berg hinauf döst nur ein Hund bei den verwaisten Hütten eins Mditationszentrums, die Stupa bei Station 8 muss besonders heilig sein. Man kann in ihr auf einem Wendelgang (Rollstühle stehen bereit) hochsteigen, vorbei an einem Sammelsurium aus gruseligen Wachsmönchen, Buddhas und Shivas aus Gips, Gold, Jade oder Plastik und gespendeten Kitschgefäßen.  Der Besitzer vom Inter View schlummert bei laufendem Fernseher auf der Terrasse seines Gasthauses. Poliertes Tropenholz, Blick über einen Teppich aus Bougainvielleas. Orangen, Tee und Kaffee frei. Ein Gast mit haalblangen grauen Haaren sitzt an seinem Laptop. Ken, ein Schwede, war auch nur kurz gestrandet hier auf der Durchreise mit dem Motorrad, jetzt ist er schon Wochen hier. Er sei auf der Suche nach einem Ort zum Bleiben. Seit ein paar Jahren würde sich etwas ändern, in der Welt, im Bewusstsein, zumndestvon Leuten wie ihm. Genug hätten sie materiellen Dingen, von Anarchie auch und ungezügelter Fteiheit, nun suchten sie nach etwas Stabilem, nach etwas das sich nicht dauernd verändert, darf durchaus etwas konservativ sein.. Er habe auch genug Erinnerungen, er mag keine neuen mehr dazu haben. Man müsse jetztt das Sterben üben. Wir trinken den nächsten Tee, auf seinem Bildschirm ploppt das Angebot auf für ein billiges Häusche in Norschweden, vielleicht, sagt Ken, könnte seine Tochter ihm das kaufen. Am nächsten Tag fährt er mit seinem Motorrad hoch nach Mae Salong, das sei ein Ort der starken Energien. Manchmal würden die Naturgeister zu übermächtig, dann würden die Dörfler die buddhistischen Mönche zu Hilfe holen.

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Ein Schiff in den Bergen

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Der gewundene Pfad auf Stelzen mit lialfarbenem Geländer endet an einer letzten Aussichtsplattform. Die hat die Form eines Schiffes, über dem goldenen Rumpf wölbt sich ein geschwungenem Dach aus rotgoldenen Holzbohlen. Von den eisernen Sitzbänken blättert die rote Farbe. Für 30 Passagiere ist Platz, doch der Kapitän ist nie angekommen, die Mannschaft hat sich über die sieben Hügel  ins Nachbarland abgesetzt. Ein silberner Anker liegt im Bug, das Führerhaus am hinteren Ende ist verlassen. Auf der Veranda des geschlossenen Restaurants neben dem stehenden Buddha ist eine weißschwarze Katze der einzige Gast. Die Tische sind mit weißen Plastiktüchern gedeckt. Die Köchin schläft ein halbes Jahr. Der acht Meter hohe goldene Buddha steht auf einer Bergnase hoch über der Stadt am Fluss, er markiert die letzte der neun Stationen des Pilgerwegs den Berg herauf. Niemand ist heute unterwegs, die 28 Mönchzellen auf halber Höhe im Raschelwald stehen leer. Im Schatten döst ein schwarzer Hund. Eine Eidechse huscht über die Baumwurzeln. In einer  Amulettbude telefoniert eine einsame Verkäuferin. Hinter der nächsten Biegung des Flusses, über den Bergen, beginnt Myanmar, die grüne Grenze, ein halber Tagesmarsch. Ein lauthals singender Mann knattert auf einem Moped um eine steile Kurve. Seine Augen funkeln, wild schielen sie in verschiedene Richtungen, Zähne hat er kaum mehr, er strahlt mich an. Im Städtchen im Tal ist Markt. Halbwüchsige hören Popmusik aus dem auf der Brücke geparkten Auto und trinken Dosenbier.

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Fuck the poor

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Eigentlich habe ich längst genug von der vermeintlichen Authentizität der Armut, der Vernachlässigung der Natur, der Missachtung der unmittelbaren Umwelt, dem gedankenlosen Zumüllen des Nichteigenen mit Plastikdreck. Jedes noch so pittoresk zerlumpte Kind lässt die Chipstüte da fallen, wo es sie leer gefuttert hat. Jedes Flußufer eine Abfallhalde, jede Brache ein stinkend verkokelter Haufen aus Matratzenfetzen, Elektronikschrott, verbrauchtem Hausrats, öligen Motorwracks, Schutt. Da liegen keine Scherben mehr, keine zerbrochenen Erinnerungen oder geplatzten Träume, da eitern Geschwüre aus Gift und Chemie. Zusammengeschmolzen zu oszillierenden Klumpen und blasigen Fladen, die nicht in diesem Leben mehr verrotten. In Bangkok angekommen mit dem Nachtzug kaufe ich sofort eine Fahrkarte erster Klasse für den nächsten Nachtzug.  Den Tag verbringe ich nicht in der schmuddeligen alten Welt, sondern in der glitzernden Stadt der Moderne. Eine Trasse des Skytrains zerteilt den fahlweißen Himmel über der Sukhumvit Road, stilettosteile Hochäuser aller Hiltons und Carltons werfen keinen Schatten, in ihren Granit- und Glasfassaden spiegeln sich die kreischenden Botschaften von Videobillboards, auf  halbem Weg zu den Wolken, die es nicht gibt, wachsen Palmen. Shopping-Malls und Untergrundpassagen sind frostig klimatisiert und todschick begrünt. Wenns dort nur nicht so grauenhaft langweilig wär. Kein Eindringen, keine Eimsichten, überall Fassade hochglanzpoliert, Luis Vutton wirbt mit Mädchen in kolonialem snakewhite und sahnigem afrobraun. Im Park dreht ein schwarz Uniformierter mit Springerstiefeln auf einem Rädchen Runden um den künstlichen See. Ein Kleinkind mit Vater füttert Tauben, der Parkwächter setzt energisch seiner Trillerpfeife ein. Den Sonntagsfrieden stört das nicht. Im Pavillon führen Mädchen geheime Telefonate, in den Bäumen ratschen Streifenhörnchen und springen wie schwerelos durchs Geäst, eine schwarze Katze döst auf dem Podest einer abstrakten Skulptur. Die Risse in der Oberfläche sind doch ganz nah. In den Seitengassen vertreiben Mädchen vor Massagesalons sich rauchend die Zeit, die schon am Nachmittag auf dunkelrot und violett gedimmten Bars dünsten den Alkoholschweiß übler Nächte aus, noch die mobilen Garküchen riechen nach Gosse. 

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Marktgemälde

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Manchmal ists gar nicht so schlecht, wenn Texte verloren gehen. Der sollte mal wieder von den unwiderstehlichen Sensationen eines dörflichen Marktes erzählen. Verschrumpelte Frösche auf Bambusspießchen und Unterhosen im Sechsepack, Fische zappeln in Plastikwannen,  Marktfrauen unter grünen Sonnensegeln wedeln mit einer Tüte an einem stöckchen die Fliegen von Fleisschstücken weg, Koriander, Knoblauch und Basilikum, parfümierte Seifen, getrocknete Chillischoten, Smartphonebuden, der Geruch von Schmalzküchlein und faulendem Abfall, der flirrende Impressionismus, die  übliche Kakophonie aus einander überwältigenden  Sinneseindrücken… Und plötzlich diese würzigen Duftschwaden: die zwei Frauen auf dem Lastwagen rauchten beide einen fingerdicken Joint, fürs Foto verbargen sie ihn diskret.

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Spiegelung geht immer

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Der Seemann ist wieder da, bläulich wie zarte Krampfadern seine Tättowierungem am nackten Oberkörper, immer noch blass vom Vermeiden allen Tageslichts, er freut sich nicht, mich wiederzusehen. Ein übergewichtiges Pärchen aus England schweigt sich an. Zufrieden essen sie große Portionen gebratener Nudeln, meine Schüssel vietnamesischer Nudelsuppe ist auch riesig und schmeckt ziemlich grandios. Zwei junge Laoten bestellen ebenfalls Suppe, sie hören laut Popmusik mit ihrem Smartphone. Eigentlich mögen wir die Einheimische doch lieber arm, still und rückständig. Zurück über die Grenze nach Thailand, die Abendsonne wirft einen silbernen Glanz auf den breiten Fluss. Mekong Ade. Und plötzlich diese „Schwernehmigkeit“, so nannte mein Vater das. Die beissende Schärfe einer Nudelsuppe am Bahnhof von Ubon sollte jeden Anflug von Weltschmerz verscheuchen. Ach hätte ich doch den im Wasserfläschchen getarnten Laolaofusel gekauft. Aber eine ganze Nacht im Wiegen des  Zuges muss ausreichen. Weiße und gelbe Lichter ziehen vor dem Fensterpanprama vorbei, blitzen kurz auf im Schwarz, ein entgegenkommender Zug wird vorbeigelassen, er pfeift, wie alle Züge in allen Träumen der Welt pfeifen, beim Halt im Irgendwo stehen fahle  Gestalten am Bahndamm. Gehen sie nach Hause? Haben sie ein Haus? Schlafen sie unter einem Dach aus Wellblech, einer Plane, aus Stroh, aus Bambuslatten, aus Holz mit verziertem First in Form eines Drachen?

 

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Mehr geht von außen nicht

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Dünne Jungen springen die zehn oder mehr Meter des Wasserfalls hinunter. SIe tragen dabei ihre engen Jeans und manche sogar stolz Kapuzenshirts, nur die Schlappen werfen sie voraus ins tosende Wasser. Unverblümt schauen sie die Touristinnen in den Bikinis an. wir schauen zurück und lassen uns an den schwarzen Fels geklammert minutenlang den Rücken vom donnernden Wasserfall massieren. Mehr von außen geht nicht. Nur ein paar hundert Metee weiter, wo die Bambusstege über die brodelnden Pools enden und die Picknick-, Wasch- und Badezone aufhört, führt der Pfad ins struppige Gebüsch. Ein uralter Mann hackt mit seiner Machete Brennholz, er deutet verschämt auf seinen eingefallenen Brustkorb und in den Himmel, ein bisschen zu großer Geldschein (das Kleingeld haben mir zuvor kleine Mädchen mit gerösteten Bohnenkernen abgeknöpft) verzaubert sein Runzelgesicht zu einem  zahnlosen Lächeln. Sein nahes Dorf hat keine Straße, die mit dem Auto erreichbar wäre. In der Mitte des Dorfplatzes steht ein großes Gemeinschaftshaus. Das ist ein Spirithouse, ein ho kuan der Ngae Ethnie, ein Geisterhaus. Die schwarz bemalten Holzplanken sind mit Zeichen, Schlangenlinien und Kringeln in weißen Pinselstrichen dekoriert. So ähnlich hab ich das bisher nur auf den Trobriand Inseln gsehen. Einmal im Jahr, jetzt im März, werden hier die Geister der Ahnen mit rituellen Umrundungen, zeremoniellen Tänzen  und Getrommel beschworen. Für Fremde wie mich, Frauen wahrscheinlich sowieso, ist das alles Tabu, Knochen und Towrhörner werden dort aufbewahrt, das Schlagen der Ttommel und auch die roh geschnitzen Holzpfosen bloß nicht berühren, warnt eine verblichene Tafel. Ein paar ältere Männer sitzen am Rand des Platzes im Schatten und beobachten mich misstrauisch. Ich mach mich lieber vom Acker. Am Dorfausgang ist eine schmutzwassrige Gänsefurt, danach stellt sich ein ein Mann mit Machete – haben alle immer dabei – in den Weg. Mit einem Stöckchen malt er Kreise und Linien in den Staub, und eine Zahl, so viel Gled will er dafür, dass er mich führen würde, ich steige ihm nach über drei Zäune und durch Gärten, dann ists mir zu blöd und ich geh allein einen zaunlosen  Trampelpfad an abgefackelten Reisstoppelfelder entlang. Die gleissende Sonne  steht hoch, mir ist ein  bisschen gespenstisch zumute. Als ich eine Stunde später das nächste  Dorf und eine Straße sehe, bin ich erleichtert. Auch dort gibt es ein bemaltes Ahnenhaus in der Mitte. Hier sitzen Männer drin und palavern laut. Bier haben sie auch. Frauen lagern ringsum im Schatten unter ihren Häusern, Hühner, Ferkel und große Muttersäue laufen herum. Mädchen grüßen scheu.

 

 

 

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Mobile Nagelstudios

 

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Tadlo hat der Seemann gesagt.  Der Bus von Pakse aus braucht länger. Er fährt auch später los. Mit den Diensten von zwei Frauen mit mobilen Maniküre-Pediküre-Nagelstudios im Plastikkörbchen vertreiben sich Reisende die Wartezeit. Eine Bäurin bietet  Bündel mit weißen Rübchen feil. An einer der vielen bunten Buden braut ein Frau mit roten Wangen und rotem Kopftuch sirupdicken Kaffee, schüttet ihn mit gesüßter Kondensmilch auf und über ein Pfund geschredderte Eiswürfel. Als wir in Tadlo ankommen ist es dunkel, Ich bekomme das letzte freie Zimmer im empfohlenen Gasthaus. Die  Hängematte aus grünem Tuch auf der Holzveranda wiegt mich nah an die Seligkeit. Eine – nur eine und nicht diese Millionen von der Insel – Grille zirpt und macht die samtschwarze Stille hörbar.

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Brückentage, Hohlwege

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Der Hund schläft über Nacht vor meiner offenen Hüttentür, eine Hängematte baumelt vor der Holzveranda, am Morgen schaut der Gockel vorbei. Enten mit einem Dutzend Küken picken sich durchs trockene Gras. Nachts donnern tellergroße dürre Blätter aufs Blechdach. Mein Hirn ist auch schon ausgedörrt. Um den Zustand dieser hohlköpfigen Leere zu erreichen, müsste man zuhause ganz schön lange auf einem Bein stehen.

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Geister und andere Pflanzen

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Die Hitze ist mörderisch, die Zikaden machen einen Höllenlärm. Es ist ein Sirren. als wär man mitten in der Turbine eines kosmischen Elektrizitätsswerkes. Ich wache in der Morgendämmerung davon auf und habe von schrillenden Alarmglocken geträumt.  In den ausgebleichten Stoppeln der Reisfelder grasen gelbe Kühe mit hunderten von Kälbchen. In den offenen Verandabars  stehen die Rucksacktouristen und betrinken sich schon am Vormittag mit eiskaltem Beer Lao. Wer den Hals davon nicht voll kriegt, kann sich eine Pizza  mit magic mushrooms und Mangoshakes  mit Gras reinballern. Eine Gtuppe chinesischer Urlauber setzt sich schnatternd in den winzigen Schattenplatz bei der ehemaligen Eisenbahnbrücke zur Nachbarinsel. Der Mann ist stolz auf seine ansehnliche Kameraausrüstung vor dem Bauch. Er knipst wie irre die kleinen Kinder in ihren putzigen Schuluniformen. Sie hampeln wie Äffchen für ihn herum. Es wirkt obszön. Tiere fotografieren. Topfpflanzen und Geisterhäuschen.  Drei Tempel gibt es auf den zwei Inseln, alle sind vernachlässigt, vermüllt, aus einem dröhnt  Rockmusik. Wir sind in Laos und da ist immer noch Kommunismus, da hat mans nicht so mit der Religion. Wenn man Leute um Foto-Erlaubnis fragt, lassen sie es zu, sie ertragen uns Touristen als Goldesel (cashcow), dann erstarren sie in maskenhafte Posen.

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Schwimmen im Mekong

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Zwei tätowierte Italienerinnen im Bikini sitzen im Mekong. Eine Wasserbüffelkleinfamilie guckt leicht indigniert, die Kuh geht baden. Der Schlamm ist cremeweich, mal lehmig fruchtbar, mal sandig und voll glitzernder Mineralien. Am Rand der Strömung kann man auf der Stelle  schwimmen. Mein Hemd ist zwanzig Minuten später wieder trocken. Nach der Hängebrücke zu einem Wasserfall  und ein paar Mauerresten aus der französischen Kolonialzeit kommt niemand mehr des Wegs. Eine Brücke auf dem Pfad durch den Dschungelwald ist zusammengebrochen. Ein paar Holzbohlen und rostige Schwellen der einst von den Besatzern gebauten Eisenbahnlinie, die ganze sieben Kilometer über die Insel und noch weitere zwei auf die benachbarte führte, hängen in den zugewachsenen Graben. Die Umgehung führt hinunter zu einem sandigen Uferplatz, Wasserpause Abkühlung. Ich wusste nicht, dass ich im Badeurlaub bin. Jeden Tag werde ich von nun an im Mekong schwimmen. Ich umrunde die Insel, kaufe Wasser am südlichen Ende, wo die Berge schon Kambodscha sind und man mit einem Bötchen aufbrechen kann, um vielleicht die seltenen Süßwasserdelphine zu sehen. Ich gehe durch verdorrtes Gebüsch, an einer Köhlersiedlung vorbei und an einer zerzausten Bananenplantage. An vielen Stellen ist der Wald bis in die Baumkronen verkokelt, ascheschwarz der Boden, verbrannte Erde statt der grüne Wildnis. Grillen sirren.

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Schlafen

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Der Seefahrer kippt einen Schuss Apfelschnaps aus einer Thermoskanne in unsere Kaffeebecher. Wir sitzen am Busbahnhof von Ubon Ratchatani, es ist noch keine acht Uhr Früh, wir warten auf den Anschlussbus über die Grenze nach Pakse in Laos. Der Seefahrer hat das Wappen der Bretagne  an seinem  Hals eintättowiert, da kommt er her und den Schnaps hat sein Großvater gebrannt. Einen Tag zuvor erst bin ich in Bangkok angekommen, die futuristische Metro braust als Skytrain zum Hauptbahnhof, dort bekomme ich sogleich ein Ticket für den Nachtzug nach Ubon. Den Nachmittag bis dahin schlendere, naja schleppe, ich mich durch das nahegelegne Chinatown, trinke haufenweise Instantkaffee in herrlich eisig klimatisierten Supermärkten,  esse aufgeschnittene Mango im Plastikbeutel und Schmalzkringel, kaufe einen rosafarbenen Plastikstrohhut mit blauen Stofftulpen, versorge mich mit  thailändischem Insektengift und chinesischer Kräutermedizin gegen den Husten. In einer schattigen Gasse näht eine Schneiderin aus meiner Vorhangseide einen Schlafsack. Hitze und tiefe Mattigkeit nötigen mich dauernd zum Schattenplätze suchen. Die schönsten Orte der Ruhe und Ventitlatoren und Klos sind die Tempel. Der ersten Halt  mache ich beim Tempel der Prostituierten, die lieber ein Armenkrankenhaus auf Erden eröffnete, als in die ewige Heiligkeit hinüberzutreten. Ganz still ist es mitten im Herzen Chinatowns, einem von allem Stilwillen vergessenen Hinterhof, wo schon 1654 chinesische Flüchtlinge und alsbald Händler ihren ältesten Tempel für das Wohlergehen ihrer Geschäfte errichteten und bis heute zum Räucherstäbchen abfackeln und Schicksalbeschwören herkommen. Wie immer läuft tonlos ein Fernseher drinnen und ein uralter Mann sitzt vor einem Teller Reis dabei. Eine schläfrige Katze jagt in eher symbolischer Geste kurz einer Ratte hinterher, und legt sich wieder hin. Die Ratte flitzt davon unbeeindruckt hin und her. Eine Ecke weiter, zwischen den Rauchfahnen röstender Esskastanien und Buden voll grellfarbenen Törtchen und glitzernden Paraphernalien, liegt fast verborgen der Eingang zu einer ausgedehnten Tempelanlage. Mindestens sieben Meter hohe Wärterfiguren in Smaragdgrün, Rot und Gold fletschen  hinter Glas furchterregend  die Zähne. Orangefarbene Novizen leiern monoton eine Gebetszeremonie herunter, kniende Gläubige in Bermudashorts tupfen ihre Stirn auf den roten Teppichboden. Götterstatuen mit goldenen Schwertern, schwarzen Bärten oder rosa Tüllschleiern werden um Rat befragt und mit füf meter entfert gekauften Mandarinenkörbchen gnädig gestimmt. In einem Raum kann man vorgedruckte Listen mit seinen Wünschen ausfüllen und neben der Düendenbox deponieren. Eine vielarmige Shivagöttin in einem Schrein ist irgendwie das Wahrzeichen des japanischen  Canon-Konzerns, was ein Touristenguide mit einer wikipediaseite auf  seinem smartphone strahlend demonstriert. Auf der brutal umtosten Verkehrsinsel vor dem Hauptbahnhof Huang Lampong legen sich bei Einbruch der Dämmerung die ersten Obdachlosen schlafen. Im Zug werden die Liegen mit weißen Laken bezogen, vornehm summt die Klimanlage, ich ziehe meine Daunenjacke zum Kinn.

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Freibeuter

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Schön wars am Ofen dort. Nun ist Hund und Herrchen weg. Die Kunstobjekte blieben, ob Harry sie je wieder zurückbekommt, ob er je wieder Platz dafür haben wird, wenn sie da nicht längst als Schrott entsorgt wurden. Wo wohnt er? Das Laufen fällt ihm schwer. Vom Roma-Lager gleich neben dem Uferweg ist nichts mehr zu sehen. Tabula rasa. Alle Relikte, Müll, kaputte Fahrräder, Decken, alles weg, die Büsche niedergewalzt, die Erde wie gefegt. Auch die verwilderte Brache dahinter ist sauber niedergemäht. Der Aufbruch von Harry, Hund und einer Handvoll Mitbesetzern war unfreiwillig, und doch was man friedliche Räumung nennt. Jetzt bewachen Männer in gelben Westen von einer Sicherheitsfirma das Schiff. Mitte Oktober hatte die letzte Gruppe den Freibeuter besetzt, dort gelebt, gekünstlert und gekocht. Es gab interne Konflikte, ein Polizeieinsatz. Die einen wollten mit dem Sozialhilfeverein zusammen arbeiten, deren Leute schon das geduldete wilde Zeltlager von obdachlosen Jugendlichen betreuen, die anderen wollten mit niemandem „vom System“ zusammenarbeiten. Der Neubau dahinter wächst, die Stelle mit dem wilden Schnittlauch ist eingezäunt. Letztes Jahr gab es dort noch ein Osterfeuer.

 

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on kötü aksamimis boyle olsun

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Berlin, Warschauer Brücke, Samstag Nacht, Frühling im Februar.

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