
Was ist denn hier los? Die Straßen sind sauber und schattig, sie haben Bäume und französische Namen, in Schaufenstern stehen Wein und Whiskyflaschen in Regalen. Diese Läden heißen High Spirit, Top Knotch oder Welcome Wines und haben so gar nichts gemein mit den hühnerstallgroßen Verschlägen in Schmuddelecken hinter Busbahnhöfen. Die Tuktukfahrer verlangen das Zehnfache des normalen Preises, die westliche Zivilisation meldet sich zurück. Die Kolonialvillen der Weißen Stadt von Pondicherry sind picobello restauriert in taubenblau, sandgelb und natürlich weiß, die holzgeschnitzen Fernsterläden sind zu. Veranden und Balustraden leer, fast niemand auf den gefegten Bürgersteigen, Verkehr ausgesperrt, wohnt hier überhaupt wer? Nicht zu verkaufen steht an manchen Pforten. Im französischen Kulturinstitut schläft der Pförtner. Nicht weit davon, im Ashram von Sri Aurobindo muss man Schuhe ausziehen und Telefone ausschalten, dann darf man zwischen Topfpflanzen den Marmorsarkophag anbeten, Menschen knien in einer weißen Kammer vor einer leeren, mit Damast bedeckten Liege, Andacht, Stille, Tagetes. Zwischen Homöopathie-Klinik und vornehmem Hotel das Retreat, in einer Halle hören Anhänger der Predigt eines heiteren Vorleseonkels zu, alles ist leicht, das Göttliche überall, in Dir, in mir, Everybody loves me, whats wrong with you. Leider kann ich die Essenz von Sri Aurobindo und seiner französischen Propagandistin, genannt The Mother, (sie kam 1914 nach Pondicherry) nicht wiedergeben, weil mir bei jedem Versuch, die Botschaft auf den rosa und vanillefarben grundierten Texttafeln zu lesen, nach spätestens drei Zeilen das Hirn verklebt. Trotz dem Beteuerungsmantra, dass es nie und nimmer um eine Religion gehe, trieft die Begrifflichkeit dermaßen von Göttlicher Wahrheit, Supramentality, religiöser Unterwerfung, Heiligkeitsverehrung und totalitärem Personenkult um den Guru und eben The Mother. Und jetzt alle: No Religion Om. 1968 gründet die da schon 90 Jährige Mother Auroville als New Age Utopie eines Ortes, in dem 50,000 Menschen ohne Privateigentum (das bringt man ein), Geld, Regierung selbstverwaltet und frei in göttlicher Harmonie leben sollen, Yoga machen, singen, malen. Millionen Bäume wurden gepflanzt, ein Stadtplan in Form eines galaktischen Spiralnebels visitiert, im Zentrum die goldene Mutterkugel, das Meditationszentrum Matrimandir. Am Besucherzentrum müssen die Autos und Tuktuks geparkt werden, ein Restaurant, ein Laden mit handgeschöpften Souvenirs und Stoffzeugs, eine lichte Halle mit goldenen Missionssprüchen und Infotafeln in Babyausstattertönen. Hier müsste man sich einen Besucherausweis für den 1 km langen Fußweg zum Visiting Point (hier Foto machen) besorgen, interessiert aber niemanden. Vereinzelt knattern gutaussehende Bewohnerinnen mit flatternden grauen Haaren auf Mopeds durch die Landschaft, eine handvoll weniger sportive Damen mit Schlapphüten nutzen den geldfreien Auroville-Shuttle für ihren Stadtausflug. Ein verlorener John-Lennon-Verschnitt mit Gandhi-Brille und Dutt radelt vorbei. Für meinen zügigen Rückweg hält der normale Rumpelbus auf der Landstraße an.

Im kleinen Stadtpark von Pondy sind alle Schattenplätze besetzt, hundert Schulkinder warten in Reih und Glied auf dem Rasen auf ihre Speisung, am Ende bekommen auch die herumlungernden halbwüchsigen Zuckerwatteverkäufer ein Essenspäckchen. Im Museum sind etwas Mobiliar, Porzellangeschirr und zwei Flügel („Holz, 19./20.Jh.“) ausgestellt, welche die Franzosen bei ihrer Abreise 1956 zurückließen, mehr erfährt man nicht über die komplizierte Geschichte ihrer Herrschaft. (1673 kaufte die französische Ostindienkompanie dem Sultan das Küstendorf ab…), penibel datiert und mit verblichenen Archivzettelchen ausstaffiert erzählen Versteinerungen, Scherben und Faustkeile in uralten Glasvitrinen, sowie riesige Tonkrug-Urnen von älteren Siedlungsgeschichten eines einstigen Arikamedu, das mit den Römern Handel trieb. Ein Sammlung von Wachsbronze-Ausgussfiguren aus der Chola-Zeit… nein Vishnu, lass es, ich geh hier nicht in den Tempel! Ein Pförtner winkt zwingend einladend in die Lesesäle der Romain Rolland Library, Ventilatoren lassen die Stille rascheln, oder sinds die Männer, die in Zeitungen und Magazinen blättern, hier lang, der Arm des Pförtners deutet auf einer Stiege, europäische Literatur eine Treppe höher, in den Regalreihen, How to disappear, Closing Time. „Wenn es einen Ort auf der Erde gibt, wo alle die Träume lebendiger Menschen seit den ersten Tagen, da der Mensch den Traum des Lebens zu träumen begann, eine Heimat gefunden haben, dann ist es Indien.“ Romain Rolland. Zitiert von Shashi Tharoor. Im verkehrs-und einheimischenbefreiten französischen Viertel könnte man Indien kurz vergessen, schick einkehren in einer der zum Heritage Hotel umgebauten Kolonialvillen, sich im europäisch gestylten Restaurant von Kellnern bedienen lassen. Blonde Urlauberinnen mit alkoholfreien Cocktails und qualmende Räucherspiralen zur Abwehr der Stechmücken vertreiben auch mich von dort. Die Slums hinter den Bahngleisen haben Meerblick, junge Männer picknicken im Müll, dazwischen ein Altar, den Gipsgöttern fehlen Arme, ältere Männer teilen sich ein Sonntagsbier in Plastikbechern, sie sitzen im Schatten des zusammengebrochenen Piers der Illumination, Blickwechsel aus Augenwinkeln, was bist Du, Freund, Feind, Fremder, Freak, grüßen, winken, lachen, lächeln, so viel Lächeln wurde mir noch nie zuteil. Look at me. Im Herbst 2021 wurde in Auroville von der Zentralregierung eine neue, Modi nahestehende Generalsekretärin eingesetzt, sie und ein neues Team übernehmen innerhalb weniger Monate alle bisher von der Gemeinschaft gewählten Abteilungen der Verwaltung, Stadtentwicklung, Wohnungen, Straßenbau, Arbeit, Finanzen, das Archiv, email-Adressen, die Media-Einheit, den Vorstand, um den stagnierenden Fortschritt Aurovilles zu beschleunigen. Tatsächlich brauchen Entscheidungen im basisdemokratischen Kommunikationsprozess monate-, wenn nicht jahrelang. Nun werden ohne kommunales Einverständnis über Nacht 1000e Bäume gerodet, Gebäude abgerissen, Straßen gebaut, Kabel verlegt, langjährige Bewohner aus ihren Häusern vertrieben, Räumungen angeordnet, es wird gedroht, die Unterschriften für Visaverlängerungsanträge zu verweigern (1893 von 3312 registrierten Bewohner Aurovilles, Kinder und Erwachsene, Teilzeityogis, sind von Visas abhängige Westler), Prozesse werden geführt, die Community gewinnt, das interessiert nicht, Bulldozer schaffen Tatsachen, ein erster Landesverweis wird ausgesprochen, Leave India. Der Verdacht: es geht um Landübernahme für die kapitalistische Erschließung, Vetternwirtschaft, die übliche Korruption. 54 Jahre Auroville haben die Gegend aufgewertet, die selbstverwaltete spirituelle und ökologische Modellstadt ist ein Touristenmagnet, Hotels, Restaurants, Grundstückspreise drumherum sind explodiert. Vorwurf der nationalistisch regierungstreuen Seite: eine übersichtliche Gruppe westlicher Hippies und Privilegierter hat sich hier breitgemacht, sie lassen ihr Paradies der Selbstverwirklichung von Tausenden Einheimischen, den Arbeitern und Dörflern der Umgebung, zum Leichtlohn beputzen und beackern, denen sie jedoch in rassistischem Neokolonialismus den Zugang zu ihrer elitären Supermind-Gemeinschaft verweigert. New Age ist over. Protokoll der Machtübernahme aus Sicht der Auroville Community: https://standforaurovilleunity.com/timeline-of-the-events/

Und jetzt, und ich? Bin am Meer entlang gegangen und war auf Märkten, habe in der schönsten Karawanserei Chennais neben der großen Moschee gewohnt, hab Reis mit Masalas auf Bananenblättern gegessen und in siedendem Fett gebackene Samosas und frisch gemixte Limonaden mit gestoßenem Eis getrunken, bin an Teebuden rumgestanden, an Hunderudeln vorbei durch Gassen und auf dieselverpesteten Straßen gegangen, hab einen hinduistischen Friedhof besucht, natürlich bin ich auch wieder in schäbigen St-Antons-Kapellen gewesen, hab den Meisen im Gebälk zugesehen und in furchterregenden Kali-Tempeln mir das dritte rote Auge geholt, hab ein Kingfisher-Bier von High Spirit gezischt und war dem Heiligen High ziemlich nah, als ich vier Bündel Grünzeugs gekauft und vier sabbernd wartenden Kühen gefüttert habe. Jetzt bin ich schon fast zwei Wochen wieder hier. Reflexion? Vielleicht später, wenn ich nicht mehr so debil glücklich mit dem Kopf wackle. Die Kormorane sind alle auf ihren Bäumen in der Bucht.
Oh, ja Sri Aurobindo und die Mutter sind in Pondicherry omnipräsent. Dazu kommt, dass den beiden Organisationen fast die halbe Stadt gehört. Streitigkeiten zwischen den beiden gibt es schon Jahrzehnte- Friede, Freude und Eierkuchen unter den rosa spirituellen Mäntelchen ist mehr Schein als Sein. Trotzdem wenn ich in Auroville bin, staune ich immer über die geleistete Arbeit (auch wenn sie vielleicht nicht von den Aurovillianern selbst ausgeführt wurde oder wird). In jahrelanger Arbeit wurde ein kleines Paradies erschaffen.
Modi will im Süden an Einfluss gewinnen, denn hier ist er wenig populär. Diese Konflikte werden weitergehen…
Bist du bereits wieder zu Hause? Oder steht noch Chennai auf deinem Programm? Ansonsten könnten wir uns zum Café treffen. Liebe Grüße Irène
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ach, das wäre sehr schön gewesen, hab jetzt erst im Nachhinein nachgelesen, dass Du ja in Chennai lebst. Ich war die letzten drei Tage in Triplicane, bin nicht viel weiter gekommen, von Chennai flog ich dann wieder ab nach Berlin.
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Wie lange warst du in Indien unterwegs? Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass dies eine lange Reise war.
Vielleicht kommst du ja mal wieder 😉! LG Irène
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Guten Morgen liebe Sabine bist du wieder zurück?
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ich glaube schon…
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Ach lieber nicht – bleib lieber in deiner Fantasie, Wünsche ein schönes Wochenende im Wolkenland
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danke, so mach ichs, Wolken sind hier sogar besser
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Ich habe erwartet Du wirst Mitglied in Auroville und läßt die unwirtliche Welt hinter Dir. Wir erfahren von Deiner innerlichen Befreiung und wir folgen Dir um dort Gemüse anzubauen und gemeinschaftlich zu leben…. Grüsse tom
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haha, stimmt, da waren schon lauter so grauhaarige frauen wie ich auf mopeds unterwegs, aber Gemüse anbauen können wir auch im schrebergarten in Pankow (versuchen) , lg sabine (die Kormorane haben wieder den baum auf Kratzbruch bezogen)
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Willkommen zurück. Alle irdischen Idyllen haben einen bigotten Teil. Trotzdem kann es glücklich machen – für eine Zeit. Dass Modi Wrestler ausweist, ist mir neu. 😉
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uiui, Wrestler könnt er doch vielleicht noch gut gebrauchen dort…danke, habs korrigiert
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bisschen übersichtlicher sicher in Berlin…!?
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schon, aber auch viel weniger bunt
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