
Der barfüßige Busfahrer steckt sich eine Kippe an, bevor er schwungvoll die erste der 113 steilen Haarnadelkurven von den Hügeln der Westghats Kerala in die Ebenen Tamil Nadus nimmt. Dazu dreht er die Musik lauter, hingebungsvoller Kitschpop, es geht quasi senkrecht von 1400 auf 300 Höhenmeter runter, zugleich von 24 auf 36 Grad hoch. An der Rezeption vom Hotel Temple View herrscht mich der Manager in einem so rüden Ton an, dass ich ihn gleich ins Herz schliesse. Fill in! Pay! Change room tomorrow! Damit knallt er mir den Schlüssel hin. Das Zimmer hat Deckenventilator und meine erste heisse Dusche seit drei Wochen, es gibt auch ein brütend heisses Flachdach, was hier als „Dachterrasse“ firmiert. Von da kann man die spektakulären Tortürme des nahen Meenakshi Tempels sehen, über 66 m hoch und bis oben hin mit mit pastellfarbigen Relieffiguren aus der sagenhaften hinduistischen Dämonen- und Götterwelt bedeckt. Madurai hat mehr als 1,8 Millionen Einwohner und ist eine der ältesten bewohnten Städte der Welt, vor 2500 Jahren soll es bereits in arabischen, römischen und griechischen Schriften erwähnt worden sein. Was, warum? Und in hinduistischen Schriften? Mopeds und Tuktuks knattern durch die kopfsteingepflasterten schmalen Gassen, verschlissen sind die bruchstückhaften Straßenbeläge, Löcher klaffen auf Gehsteigen, zwischen Schutt und Schotter sammelt sich Müll, Kühe und Hunde stöbern darin herum, auf Handkarren werden Handtücher, Kokosnüsse und in Zellophan verpackte Hemden angeboten, in winzigen Verschlägen brutzeln Männer in karierten Handtüchern Fettgebäck in brodelnden Eisenpfannen, auf dem Boden kauern alte Weiblein mit Körben voll Knoblauch, Bananen,Trauben und Blüten in dünnen Plastiktütchen. Über das Pflaster der autofreien Straßen um die Festungsmauer des Tempelkomplexes schweben schmetterlingsgleich Schwärme von barfüßigen Frauen in wehenden Saris, braune Männer mit glänzenden nackten Oberkörpern und saphiergrünen Lendentüchern traben im Gänsemarsch vorüber, wandlende Spielzeugregale mit einer blinkender Krone aus Staniolwindrädchen treiben in den Menschenströmen, zwei Polizisten schlendern Hand in Hand, ein Krüppel bietet rosafarbenen Plüschtäschchen feil, ein Hinkender scheppert mit einer Rassel. Eine zierliche Bettlerin streckt ihre leprös verstümmelte Hand aus, mit der sie die Münzen nicht halten kann. Die Schmuckverkäuferinnen lagern mit Kindern, Glasketten und Messingreifen auf Tüchern auf dem Boden, es gibt ein Geschrei, Frauen zetern, schimpfen, kreischen, gehen handgreiflich auf einen Kerl los, der um sich haut, dagegen ist Kathakali kalter Kaffee. Eine barfüßige Bucklige kauft einen Kuchen und teilt ihn mit einem Straßenhund. Überall liegen Hunde dösend mitten im Weg, auf den polierten Steinmäuerchen unter dem Gitterzaun rings um die Tempelmauer palavern Männer in weißen Wickelröcken, einer in Hemd und Bürohose meditiert mit geschlossenen Augen und murmelt Mantras, Frauen in Glitzertüchern mit großen Taschen glucken zusammen auf dem Boden, ein Weißhaariger liest Zeitung, breitet sie auf dem Boden aus, bettet sich drauf und schliesst die Augen. Überall liegen Schlafende herun, auf einem Stück Papier, einem Tuch, einem Lumpen, einer Stufe, mitten auf dem Bürgersteig, einfach auf dem warmen Stein. Und da passierts. Es tobt, lärmt, brüllt, klingelt, surrt, es ist heiß, laut, dreckig, ich setze mich auf den Borstein und alles wird ganz still. Heiligs Blechle. Was für ein Glück, da zu sein. „Go rest!“ bellt der rüde Manager an der Rezeption lg, als er meine Buchung verlängert. Dazu grinst er.




Der Manager hat Recht: Take a Rest. Du hat es dir mit deinem atemlosen Bilderbogen reichlich verdient.
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mach ich, bin schon mit den Füssen im indischen Ozean. Du auch!
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Faszination pur … dein Schreiben 💐
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Danke sehr!
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🎶🎵🎶🎵🎶🎵🐦
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Scarlatti?
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Genau *lächel*
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Deine fantastische Beschreibung machen mich unruhig. Ich möchte sofort meine Sachen packen und nach kommen. Rest
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gute idee! es ist wirklich fantastisch
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Wie lange willst du noch bleiben?
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noch drei Wochen, nur!
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Deine Beschreibungen sind großartig und die Bilder, die du damit verbindest, wecken sofort den Wunsch, nach Indien zu reisen. Wenn ich morgens deinen Bericht lese, werde ich den ganzen Tag von dort träumen. Hier im kleinen Wendland bin ich gestern einem Wolf begegnet. Das ist alles was ich an Abenteuern zu berichten habe. Pass auf Dich auf!
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Heut sprach mich am Pilgertauchstrand eine Frau an, kurz die übliche Vorstellung where are you from und so und dann stellt sich raus, sie ist (professorin in california) Vijara Nagarajan, die Autorin von Feeding a Thousand Souls, Woman, Ritual, and Ecology in India, An Exploration of the Kolam. Kolam sind die Mandalas, die die Frauen vor die Haustüren malen… habs mir gerade gekauft und runtergeladen. ist das nicht alles zu unglaublich?
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Ich habe die indische Professoren in Amerika sofort gegoogelt, sehr interessant ihr Buch. Werde es mir herunterladen! Hast du noch Kontakt zu ihr? Einen schönen Tag
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danke, Dir auch einen schönen Tag! Das Buch hab ich auch runtergeladen, fängt schön an, die Autorin hab ich leider nicht wieder getroffen.
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Schon wieder ein neues Desktopfoto.
Schick bitte weniger, ich möchte mich nicht so schnell umgewöhnen.
Erhol dich und starte weiter durch, was sonst.
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haha, danke, zurückhaltung ist schwer bei der biblischen Fülle der Bilder hier
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Die biblisch zurückhaltenderen riechen oft am Besten nach vor Ort.
Diesmal war es das letzte für mich. Danke nochmals 😉
Scarlatti ? Magst du Contemporary grundsätzlich – also wenn du nicht vor Orten bist ?
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Grandiose Beschreibung, Hut ab!
und herzliche Grüße gen Osten aus Südwestkreuzberg
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Danke! Gruß zurück nach Südwestkreuzberg
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Herrlich! Wieder jeder Satz ein Treffer ins pralle Herz des Lebens. Genau so ist es dort. Sehr treffend, die Beschreibung des Rezeptionisten, das ist keine Übertreibung.
Hab übrigens deinen Blog auf meiner blogroll verlinkt. Viele Grüße vom SinnlosReisenden
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oh wie nett, danke! das wird ja knattern. ja der Rezeptionist war herrlich, in Tamil Nadu ist Schluss mit dem süßen Kerala-kuschelkurs, obwohl…beste Grüße -und ich wart schon noch auf den indischen Hochzeitsbericht.
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