
Nachmittags schlafen die Götter. In der größten Hitze des Tages, bis vier oder halb fünf, bleiben die kühlen Gemäuer und schattigen Wandelhallen verschlossen für die Pilger, die Nachbarn und wenigen Touristen. Bis dahin habe ich Chidambaram und mein neues Hotel erreicht. Es liegt direkt am Osttor zum Tempelbezirk, das erste, das ich direkt bei der Buchung am Tag zuvor mit Karte bezahlen musste. Mehrere freundliche Herren in mokkabrauner Hoteluniform an der Rezeption, Zimmer unterirdisch, Eimer statt Dusche kein Problem, aber „Fenster“ auf den Kellerflur mit Blick auf einen höllischen Generator. Reiseführer, Internet und die diversen Buchungsagenturen taugen hier nicht mehr, hilft nur rumlaufen, fragen und guck, da ist ein Hotel mit Zieharmonikatüren-Aufzug und Zimmern mit Ausblick über die Dächer zum halben Preis. Inder scheinen Zimmer vorzuziehen, in denen man der Welt draußen entfliehen kann. Und wenn die Zeit in Schleifen geht, dann kann der Neumond auch mehrere dunkle Nächte dauern. Im wieder über 1000 Jahre alten Tempel von Chidambaram wird Shiva zu allen Mondphasen und Sternbildern angerufen. Die Prozession der Gläubigen kennt kein Ende, in der 160,000qm (400x400m) umfassenden Anlage haben auch zwei große Freiluft-Kuhställe Platz und ein Saal zur Speisung aller Besucher, Wege sind weiß getüncht, damit man sich nicht die barfüßigen Sohlen auf den dunklen Steinplatten verbennt. Im Geviert aus hohen Mauern und Säulengängen, im innersten Hof, unter einer golden Kuppel, rücken die Pilger geduldig auf, Frauen geben Blumenketten, Bananen und Kokosnüsse in kleinen gewebten Einkaufstaschen ab, Mönche nehmen ungerührt, fast herablassend, die Opfergaben entgegen, leiern monoton Gebetsformeln, händigen Prisen mit Kalkpulver oder Farbe aus. Statt sich einem Punkt zwischen die Augen zu drücken, verreiben Männer die Farbe großflächig auf der Stirn, manche tragen drei fingerbeite quere Streifen, manche haben die ganze Stirn, die Schultern, die Kehle, weiß gezeichnet, von weitem sieht es aus wie ein Mull-Pflaster, ein Kopfverband der Götterverehrung aus Kalkpulver. (Nicht Kalk, sondern heilige Asche, aus Holz- und Kuhmistfeuer, Vibhuti, wie Irene s.u. kommentiert hat.) Überall Mönche, ein paar gebeugte Alte, die Schnur über runzligem Brustkorb, scharenweise Nachwuchsmönche, die Haare kurz geschoren bis auf einen kleinen Dutt wie ein Hörnchen links oben am Kopf, die nackten Oberkörper schweißglänzend, um die Hüften bodenlange weiße Tücher, die sie dauernd richten, zuppeln, neu verknoten, im Bund steckt das Handy, Fotografieren strictly not allowed steht auf Plakaten und digitalen grünen Leuchtbändern, telefonieren und bildschirm checken ist aber ok für die Tempeljünger, sie hocken zusammen zwischen sonnenwarmen Säulen, einige tragen mal eine geschmückte Götterfigur auf einer Sänfte ums Karree, dazu gibts auch Trommeln und Getröte, einige arrangieren ein Tableau aus Obst, Reis, Hülsenfrüchten, Blüten, falten Tücher, winden Schleifen um silbere Gefäße, drapieren Blumengirlanden. sortieren Dekorationen um, drapieren sich selbst zu einen lockeren Kreis, dann Quadrat, rezitieren Mantras, rekeln sich, zwei läuten große Glocken an Seilen, einer versprüht Wasser mit Zweigen, einige verteilen Tabletts und Schälchen um, alles scheint festen, aber undurchsichtigen Regeln zu folgen, hat Bedeutung, oder auch nicht, rituelle Handlungen brauchen keinen erkennbaren Sinn, nicht für Uneingeweihte, vielleicht spielen sie nur, ewige Kindheit, existieren einfach, in zeitloser Unschuld in der Nähe der Götter, inmitten des Glaubens, einer löst ein Seil um ein Holzbündel, einer macht ein Feuer an, einer trägt Metallkannen hin und her, einer wirft Blüten und Tellerchen mit Esswaren ins Feuer, einer löffelt Öl hinein, sie singen, schwatzen, kratzen sich, die Körper glänzen, Speckpölsterchen, zarte Bäuchlein, müßiggängerische Komparsen eines Historienschinkens, tableau vivante, ein wenig schwul, Jünglinge in einem Gemälde von Caravaggio. Abend für Abend geht das so, spenden, opfern, im Uhrzeigersinn um Altäre gehen, anbeten, die Mächte der Götter beschwören. Shivas Erscheinung aber, so das weise Geheimnis der Tempelanlage von Chidambaram, bleibt unsichtbar. Selbst die Mantras für seine Anrufung, erklärt mir ein Altardiener, sind unhörbar. Good luck schreibt er in mein Notizbuch. Shiva ist ein Geist, Äther, die kosmische Energie liegt in der Luft, ist himmlische vibration. Ein Nackter läuft die vielbefahrene East Car Street entlang. Seine Haut hat die Farbe von Asphalt unter Zementstaub. Der ganze Zauber ist kein Film, es sind keine Szenen aus alten Gemälden oder Opernkulissen, die Tempeljünger keine Komparsen in einem Kostümfilm, die Männer, die sich auf den Boden werfen, die Frauen mit ihren Plastiktaschen voll Blütengirlanden, die Priester mit ihren gleichmütigen Litaneien, alle sind echt, alles ist wahr. Der Glaube ist gegenwärtig wie die sonnenwarmen Säulen und der Sichelmond, lebendig wie die Mauersegler, die Fledermäuse, der Rauch und der Schweiss. Ein Spektakel ist es nur für den unbeteiligten Zuschauer. Der vergessene Statist in einer unvollendeten Geschichte bin ich.

„Eimer statt Dusche“ – „Hotel mit Ziehharmonikatüren-Aufzug“ – „ein Nackter auf der East Car Street“ – „himmlische Vibration“ – „alle sind echt, alles ist wahr“: Das wird ein tolles Buch!
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ach wie charmant wieder, Danke! (So was will doch keiner als Buch…)
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(Ich schon.)
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Doch, ich will!
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noch eine Charmeuse, Danke sehr! ich find ja bloggen eine der angenehmsten Formen, unzensiert schreiben zu können und dann so tolle Leser zu erreichen.
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Du scheinst auf einer spirituellen Pilgerreise zu sein! Chidambaram ist ein sehr wichtiger Pilgerort für die Shiva-Anhänger. In Chidambaram ist er als kosmischer Tänzer Nataraja zu finden. Hier hat er den Tanzwettbewerb gegen seine Frau Parvati gewonnen. Ein wundervoller Tempel! Das ist übrigens kein Kalkpulver, das sich die Leute auf die Stirn malen. Es ist Vibhuti, heilige Asche. Sie wird durch rituelles Verbrennen von Feuerholz und Kuhdung gewonnen. Es ist Symbol für Shiva, den Zerstörer- auch die drei Querstriche symbolisieren Shiva. Gute Weiterreise!
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und schon wieder was Tolles von Dir gelernt, Vibhuti! Danke, auf spiritueller Pilgerreise bin ich ja eigentlich nicht, einfach nur Tourist mit Interesse an Kulturen, aber diese wunderbaren Tempel und all die Menschen und praktizierenden Gläubigen drin, sind schon sehr faszinierend.
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Was für ein Aufwand für Götter, die man nicht sieht oder hört. Glaube ist schon faszinierend, besonders wenn er so intensiv zelebriert wird.
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wahr gesprochen! aber zum Glück gibts da ja noch genug andres, dass einem hören und sehen vergehen könnt. Und wer weiß…?
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Meine Liebe Sabine, in deinen einmaligen texten ist alles dabei was ein tolles buch ausmachen kann; deine beobachtungen sind faszinierend . big hug Irit
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blog ist schon auch gut, muss man keine Kompromisse machen und braucht auch keine Story, wann kommt ihr? hab Sehnsucht nach Euch! big hugs zurürck
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Uih, was hier alles erzählt wird, echt überwältigend, und gut zu verstehen, dass man dort Zimmer für zeitweisen Rückzug benötigt!
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stimmt, aber Tageslicht, selbst wenns noch so grell und flimmernd ist, hab ich schon gern im Zimmer (in dem ich dann aber nur nachts bin)
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Konntest Du Kontakt zu den Luftgeistern aufnehmen – bei dem Gewimmel bestimmt schwer.
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ich vermute ja, die verstecken sich darin, erschienen sind sie mir jedenfalls nicht…
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Bei deiner opulenten Szenerie musste ich an die Filme von Peter Greenaway aus den 80ern denken. Ich habe den Eindruck, dass die monotonen Zeremonien das Ziel haben, Shiva einzulullen. Hoffentlich hast du Shiva nicht geweckt. Wenn er aufwacht und tanzt, wird’s ungemütlich auf Erden.
Ich finde Blog auch besser als Buch.
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Jaa, der Zerstörer! Aber dreifaltigkeitsgemäss soll er ja auch Schöpfer und Bewahrer sein, friedlich sind die ganzen Göttergeschichten nicht, reihenweise Schlachten- und Kriegergemäldr drum herum, bei Kali Splatterszenen…
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Und weiter?
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sehr gute Frage!
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