
Der Fischerhafen ist von der Pilgertauche nur durch ein Müllfeld getrennt. Schwarze Schweine mit ein paar Frischlingen rüffeln dort herum. Bei der Mole schaufeln Kerle wie aus einem Piratenfilm silberne Fischberge in Transportkisten, oben kommt eine Schippe Eis drauf, dann werden die Kästen direkt in die wartenden Lkws verladen. Auf Brachflächen zwischen Schuppen und Behausungen trocknen Frauen kleinere pinkfarbene Fische auf Planen. Neben einem hellblauen Tempelchen steht eine eine mächtige rosafarbige Kirche mit pagodenartig gestaffeltem Turm am Strand. St. Antonius ist aber selten da. Ein Vordach über den Treppen zum Eingang bietet Schatten, ein paar junge Männer liegen auf dem glatten Stein und halten Siesta. Es riecht nach Meer und Diesel. Denis hat funkelnde Augen und schiefe Zähne, er ist einer der Fischer, 31, sein ganzes Leben hier, unverheiratet, sei besser wegen der Freiheit, sagt er. Bis zu 5000 türkisgrüne Kutter liegen draußen in mehreren Reihen hintereinander vor Anker, zwischen ihnen und dem Ufer fahren kleinere Boote mit Außenbordmotor hin und her, sie transportieren Plastiktonnen mit Treibstoff auf die Fischkutter und Beute, Netze und Männer zurück an den Strand. Krummbeinige Männer führern weiße Ochsen mit einachsigen hölzernen Lastkarren bis zum Hals ins Wasser, manche Ochsen sind mit einer goldenen Glockenkette zwischen den harfenförmigen Hörnern geschmückt. Wo die asphaltierte Straße sich in Sandwegen verliert, gehen auch die Häuser in Hütten aus flüchtigem Material über, Gemäuer und Wellblech, Bretter und Palmstrohmatten, Planen, mit Schnüren zusammmengehaltene Fundstücke.

Ein Dorfdepp will fotografiert werden, will das Telefon, grabscht nach meiner ausgebeulten Hosentasche, verliert das Interesse, als ich die gelbe Schneckenmuschel raushole. Im Schatten geduckter Bäume und zerzausten Hütten entwirrt ein Fischer mit Frau die Netze. Die letzten Boote auf dem Strand fahren nicht mehr aufs Meer. Der leere Sandstrand läuft im schmalen Zipfel der Halbinsel aus, bis die Welt oder eben Indien zuende ist. Salzpflanzen mit fleischen Blättchen und winzigen Blüten und dolchspitzes Gras überziehen wie ein Flaum den Sandboden zwischen einem langgestreckten Priel. In der flirrnden Hitze darüber vibriert eine Luftspiegelung, obwohl ich viel zu weit weg bin halte ich den Atem an, da erhebt sie sich als rosa Wolke, Flamingos! Am Meersaum kristallisieren sich zwei Gestalten im Gegenlicht, ein Bild von Camus, ich kehre um. Tage später werde ich dort ins Wasser gehen, und danach so lange im Wind stehn, bis mein Hemd getrocknet ist. Unter einem Strohdach lagern vier Männer auf Ballen von Netzen, musternde Blicke, einer mit schriller Fistelstimme kommt hinter mir her. Er hat einen goldenen Fleck auf der Stirn, er will mir eine Limoflasche geben. Wo die Hütten wieder zu Häusern, und die Stiele der Palmblätter zu Zaunpfählen werden, versorgt ein kleiner Tankwagen die Bewohner mit Trinkwasser, sie füllen Kannen und Karaffen aus buntem Plastik. Am Tor zu einem Tempel stehen schwatzende Frauen, sie laden mich in eine lichte Halle mit Klapptischen und Bänken ein und tischen mir sogleich aus großen Alutöpfen Essen auf. Ein Mann starrt mich unentwegt dabei an, wie ich einhändig Gemüsecurry, Hühnchebrocken und Reis von einem Bananenblatt mantsche, ab und zu beißt er krachend in eine Karotte, als ich kurz mal zurückstarre, verzieht sich seine Dämonenmaske zu einem überirdischen Strahlen. Eine Respektsfrau lehnt meinen Spendenversuch unwirsch ab, stattdessen bereitet sie ein Betelnusspäckchen zu, das ich blöderweise ablehne. Fremden essen zu geben, den Armen und den Tieren, lese ich, ist Teil hinduistischer Tradition und Rituale. Eine Ziege knabbert das wabbelige Kokosnussfleisch aus deiner Hand. Von der Hauptstraße aus sind Trommeln und Tröten einer Prozession zu hören. Sie folgt einem mit Blumen geschmücktem Karren, vor einem kleinen Haus hält der Zug an, Frauen und Männer gehen im Kreis, sie umrunden etwas in ihrer Mitte, glänzende Tücher und silberne Gefässe blitzen auf, alle reden durcheinander, als wüsste niemand so recht, wie das Ritual geht, sie gehen im Kreis und schütten Wasser und Blüten auf einen aufgebahrten Körper, das nasse Gesicht der Toten. Ich stehe nur durch eine schmale stinkende Abwasserrinne von der zeremoniellen Totenwäsche entfernt, aber das scheint niemanden zu stören, ein Mann in Weiß tritt zu mir rüber und erzählt, dass die Tote erst 30 war und die drei Jungen hinterlässt, um die sich im Moment niemand schert. Die Leiche wird in trockene Tücher gehüllt, der leichte Körper dabei mehrmals angehoben, in Bänder gewickelt, das Kinn hochgebunden, ein Mann sprenkelt Duftöle über sie und weitere Blüten. Der Himmel ist rot. Where you from, spricht mich unter den Toren am Pilgerstrand eine amerikanische Inderin an. Nach kurzer Konversation stellt sich heraus, dass sie die Autorin Vijaya Nagarajan, Professorin in LA ist. Sie hat ein Buch geschrieben über die Tradition tamilischer Frauen, diese ephemeren Mandalas, sie heißen in hier Kolams, an den Türschwellen der Häuser zu malen. Ja, Geschichte sei ein unabgeschlossener Prozess und die Zeit, sagt sie, sei hier ein dreidimensionaler Kreis, eine Kugel? Wenige Stunden später schon lese ich „Feeding a Thousand Souls“ auf meinem Endgerät, was mir rein technisch auch wie ein Wunder erscheint. Unter einem Baum mit Luftwurzeln macht ein junger Mann Limonade aus frisch gepressten Zitronen, Zuckersirup und gestoßenem Eis. Ich sitz auf seinem Hocker, sauge das köstliche Getränk mit einem Strohhalm in mich hinein Und da geschiehts: Ich fotografiere eine Betonmischmaschine! War so picturesque. Ein wildes Pferd auf der Straße zwischen rasenden Mopeds, ein 800 Jahre alter Shiva aus Ebenholz, den ein Mönch mit Zitronensaft wäscht, eine Gasse voller Messerschleifer mit Fußkurbeln, ach was, da hol ich mein handy schon gar nicht mehr vor.

Vijaya Nagarajan Feeding a Thousand Souls, Women, Ritual and Ecology in India, An Exploration of the Kolam, Oxford Press 2018.
Dort möchte ich nicht sein. Diese enorme Anhäufung von Sinneseindrücken wollte ich nicht ertragen…Kein Sensibelchen hält das aus, oder?
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Ich bin geneigt zu glauben, daß die verschiedenfärbige Wirksamkeit der gleichen Eindrücke jenen Unterschied ausmacht, ob man im Alter granny oder Großmutter ist und sich schon bald nach seiner Geburt für die eine oder andere Seite entschied. Außerdem denke ich, daß unsensible Menschen weniger tiefe Eindrücke ausformen, falls sie auf Reisen gehen und es daher eher bei gelungenen wie ungelungenen Fotos belassen, wenn sie die empfohlenen Pfade beschreiten und davon berichten, oder ?
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Hihi … schon wieder eine neue Identität, IiI, ortsumstandshalber ;-?
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das versteh ich jetzt gerade nicht
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Vergessen bitte. Mißverständnis. Ortsumständehalber.
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einige Indienreisende sind ja auch verrückt geworden…
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Unglaublich
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lauf auch weiterhin mit offenem Mund rum
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Deine detaillierten Beschreibungen sind so wunderbar, man hört beim Lesen die Geräusche, man sieht die Farben, man atmet die Düfte ein, obwohl man Tausende von Kilometern entfernt ist. Danke, dass wir Teil Deiner Reise sein dürfen
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Danke Dir, fürs lesen und loben, Du bist so was von charmant! Hier tobts schon wieder weiter, Mahashivrati, alljährliches Neumondfestival für Shiva, ich bin in den 2 ältesten Shivartempeln, in aktuellen ist Shiva, ähm, unsichtbar, ein Geist? Der wird gerade mit lautem Zeremoniell beschworen…
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Herrlich, eine völlig andere Welt.
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