
Gesehen: Die Ethnologische und Asiatische Sammlung der Stiftung Preussischer Kulturbesitz im neu eröffneten Humboldt Forum (Zeitfenster buchen, noch ein paar Wochen Eintritt frei). Die als Pflichtdeko (mit interaktiven Kindergartenspielen, Sitzwürfelecke und Buntstiften ) in letzter Minute übergestülpten, oberflächlichsten Andeutungen zur Provenienzforschung sind schäbig unterkomplex, peinlich altbacken, blöd pädagogisierend und sie demonstrieren unfreiwillig, dass diese über Hunderttausend unfassbaren Schätze nicht „erfasst“ sind, dass sie ganz offenkundig Raubkunst sind und nicht hierher gehören; vielleicht zeigt es auch ein wenig, dass dort vom Computerzeitalter heillos überforderte und jedenfalls viel zu wenige Kunsthistorikerinnen arbeiten. „Wissmann, Kongo, 1880-83“ oder wars 1886-87?, so die sparsame Information. Container voll spooky Altarfiguren mitgebracht? Und sonst so? (In Neukölln gibt es eine Wissmannstraße, die evtl. umbenannt werden soll.) Aber schön abgestaubt, hingestellt und geschickt dramatisch ausgeleuchtet sind sie, die „Objekte“. Und vom Unding des Gebäudes selbst kriegt man vor der Wucht, und ja Masse (115 000 in den Depots) der Kunstwerke dann kaum noch was mit. Weisser Boden, Blattgoldtapete, Sicherheitsabstandspiepserei? Die Totempfähle und Ahnengeister, vor allem die Skulpturen aus den (für Frauen doch eigentlich tabu-en) Männerhäusern in Ozeanien, bewirken bei mir „heiliges Erschauern“, vor dem Heiligen. Wenn Spirit in Kunst wohnt, dann dort. Vielleicht sollten wir doch nicht alle zurückgeben?
Gehört: Gänsehaut beim Solokonzert von Mario Batkovic im Kesselhaus. (Thx to Blog von Call Me Appetite ). Der Schweizer, der gar kein Serbe ist, aber aus Bosnien kommt, spielt sein Akkordeon, als wäre es ein Synthesizer. Hingebungsvoll, Augen zu wie in Verzückung, der schwere Körper eine Welle, ein Brecher, die Finger über silberne Knöpfe fliegend, die Quetschkommode schnauft, seufzt, stöhnt, haucht, brummt, echot, knarzt, kracht, evoziert Landschaften aus Steinbrüchen und Waldwiesen, aus Wäldern, in denen Elfen zum Donnern einer Lastwagenkolonne in den Gotthard singen, Luft klirrt, die Zikaden eines Sommernachtstaumels zerschellen unaufhörlich an gläsernen Wänden, die nicht mehr wach werden. Oder so. Könnte sein, dass leibhaftig geschnitzte Geister oder live gespielte und real verhallende Töne uns Höhlenbewohner gefährlich sentimental machen. Bewegen, rühren, Gefühle erregen, die lange weggesperrt waren. Schorf bröselt, new skin for an old ceremony.
Gelesen. Sylvain Tesson, Mattes & Seitz, französischer Extremreisender fährt mit dem Rad durch Zentralasien, reitet durch Wüsten, haust monatelang an einem eisigen See in Sibirien, liegt bei -30 Grad in Tibet auf der Lauer nach dem Schneeleoparden. Vor dem Umkippen seiner Tagebücherprosa in Blockhütten-Philosophie und Selbsterfahrungs-Kitsch bewahrt den Lonesome Cowboy meist ein ordentlicher Suff. Wodka hat er vorsorglich gut proviantiert, Fische fängt er, Holz hackt er, die Solarzelle funktioniert, die Rückkehr ist organisiert, passieren kann ihm eigentlich nichts. Außer der Bär kommt oder die Freundin verlässt ihn. Der Broken Hearts Macho am Eisloch der Welt ist weitaus interessanter als der Jammerlappen von nebenan, und Abenteuer-Exotismus geht bei mir immer.
Literarisch näher am Himalaya, suffmäßig suizidaler, bewegt sich der Norweger Trinkerpoet Tomas Espedal. Immerwährend, dauerhaft am Rand, das Verlassenwerden als Prinzip der Einsamen Wölfigkeit. Gibt es ein Leben ohne Liebe? Nein. Dann also, was Tod? Voll minimalistischer Brutalschönheit, eisiger Satzschollen und karstigen Prosa-Miniaturen, Rasenmäher, Fabriktore, Aufwachen in einer Kotzelache. Einer depressiven Einsicht folgend gibt sich Espedal noch ein Jahr. Das zu leben er tagebuchartig beschreibt – in Form eines Langgedichtes, in Flattersatz! In kleinen Schlucken geniessen. Mit dem Vater, immer der Vater, der ist auch Trinker, auf Kreuzfahrt. Es dichtet ein todessüchtiger Trinker, ein Süchtiger, der den Suff lobt, das Ende preist. Nihilismus in der Reihenhaussiedlung. Erinnerungsfetzen in Alkoholpfützen. Aber auch zum Sterben braucht es einen guten Ort. Der will gefunden werden. Ohne heroische Attitüden wandert auch Espedal in seine schrundigen Seelenlandschaften, in Anzug und dem Rucksack voller Bierdosen, wühlt in seinem von der Existenz gekränkten Ego. Wortkarg. „Gehen“. „Leben“. „Lieben“. Radikale Autofiktion, Reduktion des Gelabers. Es gibt nichts Besseres als zu schlafen. „Und manchmal im tiefen Schlaf hat er die Liebe verloren und sich selbst.“ Tomas Espedal: Gehen, 2020, Das Jahr, 2018, Lieben 2021, Matthes & Seitz
James Canton: Biografie einer Eiche, Was alter Bäume uns lehren, (wenn wir nur lange genug zuhören. Dumont 2021, Noch ein Verlassener, der Heilung in der Natur sucht und sie bei einer 800 Jahre alten Eiche findet. Klein werden angesichts des Großen. Der Brite Canton, er lehrt Wild Writing in Essex, erzählt von Baumgeistern, Sommernachtstraum-Pucks, keltischen Druiden (den „Eichen-Kundlern“), dem buddhistische Satori, der flüchtige Moment hinter der Fassade die Möglichkeit der Erleuchtung zu spüren. Wenigstens aber anlehnen.
Andreas Maier/ Christine Büchner. Bullauge, Versuch über die Natur, st 2008. In diesem freundlichen Büchlein über Seifenkraut, Ehrenpreis und Kleibern das Schreiben darüber („Traktat über den Seelensegen der Naturerfahrung“) zitiert die katholische Theologin des Autorenduos den spätmittalterlichen Mystiker des „Seelengrunds“: Laut Meister Eckhart sei nur „derjenige gerecht, der ohne ein Warum handelt.“ (Während unser Vorsatz des ohne Warum immer was Bemühtes und Falsches hat, aber nicht so falsch wie das zielorientierte Handeln des Landvermessers.)
Richard Powers: Die Wurzeln des Lebens, S.Fischer 2018. . Hypersensible Außenseiter, verhaltensauffällige Hochbegabte, verkannte Künstler, kiffenden Studenten, zauselige Träumer und eine Ingenieurin mit Migrationshintergrund treffen sich, oder wie es in Romanen heißt: ihre Wege kreuzen sich. Für eine Weile bleiben sie zusammen, um die Welt, das heißt: den Wald und die Bäume zu retten. Diese sozialen Randfiguren mit ihren besonderen Antennen für den „Klang der Bilder“ oder die Sprache der Pflanzen, sie vereint nun eine Mission und plötzlich sind sie Ökoterroristen, etwas geht schief, der Staat, das System, das Kapital, nun wird’s spannend oder eben ein nach den Regeln der Kunst gut gemachter Unterhaltungsoman, in dem Bäume die Hauptrolle spielen. Ein wenig Eso-, Öko-, Weltbverbesserungs-Kitsch, für den Pulitzerpreis hat es gereicht.
William Boyd („Eines Menschen Herz“!) nun ein Spannungsplot aus dem Filmbusiness: „Trio“, Kampa Verlag 2021. Wieder ein Unterhaltungsroman vom allerbesten, denn Boyds Protagonisten dürfen denken. Sie führen Selbstgespräche, belügen sich, hadern und zweifeln und stellen ihre Lebensmodelle in Frage, dazu trefflich fieses Zeitgenossen-Bashing. Der Rebell: „Eine Parkuhr stellt für ihn ein Unrecht dar, den Müll raustragen zu müssen, beschnitt ihn in seiner Freiheit; an einer roten Ampel anzuhalten war ein Angriff auf seine Menschenrechte.“
Hernan Diaz: In der Ferne, Hanser 2021. Ein junger Auswanderer aus Schweden sucht seinen verlorenen großen Bruder, dabei vergeht sein ganzes Leben. Der menschenscheue Riese, Opfer aller Niedertracht, irrt als Flüchtender ewig durch Steppen und Wüsten und Canions, vom Westen nach Osten Amerikas, gegen den Trek der Siedler, zu Fuß, mit Esel oder Pferd, nie wird er irgendwo ankommen, so wenig Liebe, so unendliche Einsamkeit, allein in der Wildnis überlebt er.
Gruselig, die Figuren. Und richtig ausdruckstark…
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die dienten wohl bei Beerdigungen zur Beschwörung von Ahnengeistern
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Das glaub ich gleich. So sehen die auch aus 😂
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haben bestimmt gewirkt 😇
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