
Mittwoch vormittag am Alexanderplatz
Vor dem rosafarbenen Bunker von Alexa, der ästhetisch gewagtesten Berliner „Shoppingmall“ am Alexanderplatz, sind weinrote Abstandshalter-Marken auf den Gehweg geklebt. Breitschultrige Türsteher stehen wie vergessene Wellenbrecher vor der gläsernen Pforte herum, die erhofften Konsumentenorgien bleiben aus. Die Mall am Frankfurter Tor war bereits Wochen vor der „Krise“ halb entmietet und schloss abends schon um Acht. Auch am Alex ist die Schlange nicht vor der Mall mit den immer gleichen Kettenläden, sondern, ganz zivilisiert und fast unscheinbar, vor einem Geschäft für Stoffe und Nähbedarf in den U-Bahnbögen. Nirgendwo, in keiner der gerade erst wieder eröffneten Sportklamotten-Designer-Vintage-Fake-Boutiquen-Schaufenstern zwischen Friedrichstraße, Hackeschen Markt und Alex sehe ich Masken. Es trägt auch so gut wie niemand eine, die Verkäuferin im Asia Shop hat ihren schwarzen Mundschutz selbst genäht, nach YouTube, die Bändel sind alte Schnürsenkeln.
Im Garten der Parochialkirche steht ein Zürgelbaum, er ist 90 Jahre alt, der Celtics occidentalis L., meist in den Tropen vorkommend, sei winterhart und „sehr widerstandsfähig gegen alle Krankheiten“, steht auf einem Schild an seinem Stamm. Ist die Vorstellung eines jungen schönen Todesengels, der einen sanft ins Jenseits begleitet, nicht eigentlich heidnisch? Efeu liegt wie dicke Kissen auf fast 200 Jahre alten Gräbern. High Noon, das von einem Mäzen restaurierte Glockenspiel bimmelt, in der „Letzten Instanz“ nebenan waren wir mal Eisbein essen. Die Ruine der Klosterkirche strahlt wie frisch poliert im hellgrünen Himmel, im eingezäunten Innenraum blinken neonfarbene Wortfolgen auf einem Laufband, stotternd archaischer Teletext, wird Kunst sein, Dichtung. Die dadaistisch kryptischen Sätze – das muss man anderswo nachlesen – sind „Werbe Texte“ für den Alchemisten Leonhard Thurneysser, der hier, ganz früher bei den Franziskanern, eine Druckerei und eine Wunderkammer betrieb und seine Erkenntnisse gerne in Rätselreimen verschlüsselte. Verstehe das der Vogelkundler. Die „Besseren Alchemisten“ dieser „Unfinished Histories“ sind Monika Rinck und der Dichter Haytham El-Wardany, „How to Disappear“, noch mehr schöne Worthülsen. Grad lese ich, dass eine Pflanzenerkennungsapp derzeit der Downloadrenner ist. Versteh ich besser.
An der Mühendammschleuse liegen Schiffe vor Anker, unter der S-Bahnüberführung Jannowitzbrücke Schlafsäcke, ein Rollstuhl. In der Spree treiben gelbe Blütenblätter, unter dem klaren Wasser bemooste Steine, schlammgrüner Pelz, sachte bewegt, oben schwimmen aller Seelenruhe fünf Karpfen, oder Zander?, groß wie 2 l-Colaflaschen. Der neue Arzt zweifelt angesichts meiner unterirdischen Luftwerte am Messgerät oder an meiner vorgeblichen Fitness. Zwei Stockwerke, sagen Sie? Er heißt fast genau wie ein irakisch-kurdischer Schriftsteller, aus dem Wedding beide, er kam aus Treuenbrietzen und verschreibt mit was bissl stärkeres. Darauf geb ich dem stoppelbärtigen Raucher auf der Bank in der Sonne neben mir gleich einen doppelten aus. Und steige Treppen hinunter und hinauf. Aus dem menschenleeren U-Bahnhof Klosterstraße hallt das Lied eines Straßenmusikers. Seit 1913 leuchten auf den Wandkacheln die babylonische Palmen aus König Nebukadnezars Palastgarten. Ich erinnere mich an eine Kunstaktion (1994), bei der hier zehn unterschiedlich gehende Bahnhofsuhren an Pendeln schwangen. Die Aktion musste abgebrochen werden, weil die Bahnmitarbeiter davon ganz rapplig wurden.

Klosterstraße
Die Ästhetik der Verlassenheit hast du wundervoll eingefangen: In Bildern und Text.
Die Idee mit den Bahnhofsuhren gefällt mir auch. 🙂
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„wird Kunst sein“
🙂
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