
Metropolis
Vorhin sah ich Michael in einer Ausstellung auf einem Foto. Daneben hingen Fotos, die er gemacht hat. Er ist einer der Obdachlosen, die von einem Projekt der Projekt:Kirche mit einer von 42 Einwegkameras ausgestattet worden war, damit er seinen eigenen Blick auf seine Welt zeigen möge. Zur Eröffnung gibt es Bionade und Salzstangen. In eine durchsichtige Box soll man spenden für die Kältehilfe der Stadtmission am Containerbahnhof. (Die kriegen Staatsknete.) Die Scheine knüllen sich in der Kiste wie bei einer thailändischen Mönchsbeerdigung. Michael ist nicht da. Wusste keiner, wo man ihn erreichen kann? Ist er erreichbar? Wo ist er? Nicht viele der Straßenfotografen waren da. Sibylle ist verstorben. Der „Engel mit einem gebrochenen Flügel“ war da, gebeugt, immer noch elegant im Mantel und Jackett. Dann sprachen total sympathische Leute auf einem Podium, Eine las ihre Dankesansprache vom Telefon ab, ihre kleinen Kinder gaben derweil keine Ruhe, die andere hatte eine Klappmappe für ihre Notizen, die sie auf einem Manuskriptständer befestigte und war auch ziemlich aufgeregt, ein bisschen wie aufm Land, in der Scheune eines von jungen Architekten für den Eigenbedarf gentrifizierte Hinterhof-Ensembles aus rohem Backstein. Die coole Anwältin und Grünen-Politikerin mit Migrationshintergrund sagte kluges Lokalpolitikerzeugs, die Moderatorin brabbelte unbeholfen von Würde zurückgeben (?) und „Arbeit am Menschen“, der noch rechtzeitig gerettete junge Obdachlose begann zu erzählen und wollte nicht aufhören, die rosige Obdachlosen-Fotografin zupfte an ihren zu engen Bekleidungsstücken und betonte, wie total toll es sei, wenn wir alle mal mit einem Obdachlosen reden würden. Hallo, wie gehts’n so? Scheiß kalt heute, nich? Und wenn der Obdachlose davon genervt ist, dass jetzt lauter erleuchtete, vegane Hipster ihn in einen kumpelhaften Schwatz verstricken wollen? Wenn er keinen Bock auf „kreativen Flow“ und Smalltalk hat und hier hockt und bettelt, weil er keine Beziehung eingehen kann oder will? Sobald es ins Kulturelle kippt, wird das ganze Gutmenschensein unerträglich. Ein dermassen krass woker Sozialarbeiter, blonder Dünn-Dutt, Hoodie, Asientrip-Armbändchen, so was von spitznasig vegan translucent und Yoga macht er sicher auch, lächelte heilig und redete aufrichtiges Gutmenschen-Blech. Am Schluss sollten wir unsere Sitznachbarin nach ihrem Namen fragen und über eine vorgegebene Frage kommunizieren … nee, das ging echt zu weit. Zum Glück passen die Fotos des zuvor erlebten Kitschwolkenspaziergangs mit S-Bahnfahren nicht zum Text.

Ah Berlin! Ostbahnhof Richtung Warschauer Straße
Also das erste Foto ist ja sowas von erleuchtet. Mit den reflektierten Lampen. Richtig gut. Der Rest ist eher gruselig. Die armen Treber. Was ist denn woker?
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woke ist eins dieser szenedoofen neuen Wörter, für awoke, besonders wach, aufgeweckt zu sein für gesellschaftliche Ungerechtigkeit…
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Schlimmer Bericht – auch wenn ich die langen Haare zur Zeit als Dutt trage.
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Du trägst einen Dutt? Really?
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Der Pferdeschwanz kitzelt mich immer im Nacken und meine Haut (besonders sensibel) denkt da sind Mücken und bekommt die Krise. Also einfach nochmal hochgeschlagen und mit dem Telefonkabel-Binder festgezurrt.
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Du foppst mich.
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na, es gibt ja bestimmt auch beim Duttträger die Ausnahme…und der kleine Sozialarbeiter ist ja sicher auch ein grundguter Kerl und bestimmt sehr nett, nur der ganze betuliche bemühte
Kultur-Kontext, da musst ich halt mal lästern.
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