
Ohne Smartphone wüsste hier keiner, welchen Tag wir haben. Wie gestern, nur andere Gesichter, sagt der Betreiber vom Paradise Inn, er schickt mich zu seinem Brother, der am nächsten Ziel auch eine Herberge betreibt. Früh morgends die Fähre nach Kottayam, Tuktuk zum Busbahnhof, wieder ein Fensterplatz im Rumpelbus, wo es statt Glasfenster blecherne Jalousien zum raufschieben gibt. Fünf Stunden später holt mich der vollbärtige Nazeer in den Kardamombergen von Kumily mit dem Roller ab. Sein Jungle View liegt am Ende einer Gasse, es hat einen tropischen Garten voller Topfpflanzen und Hängematten, Hühner vom Nachbarn laufen herum, Orchideen schlingen sich um die Bäume, es gibt eine offene Küche aus Bambus und Drahtverhau und sechs Zimmer, das schönste nimmt den 2. und ganzen obersten Stock ein und hat eine fast rundumlaufende Terrasse, auf der ich mich wie in einem Luxusbaumhaus fühle. Unten dödelt permanent Rastamusik für die globale Wohlfühlatmo, zu rauchen gibts aber nix. Am Lagerfeuer reicht der 23-jährige Engländer Sam seine Rumflasche herum, weil sharin is ja caring, ne. Der mit schweigsamer Freundin und Klampfe reisende blonde Sonnyboy predigt endlos Lebensweisheiten, die er sich wahrscheinlich schon morgens mit der Zahnpasta ins durchaus entwaffnende Strahlegrinsen geschmiert hat, ein anderer „Traveller“ aus der Schweiz hält mit Indienerkenntnissen auf Lonely Planet-Niveau mit, über so viel naiven Neokolonialismus kann auch die pensionierte Imkerin und Töpferin aus der Provence nur noch den Kopf schütteln. Waren wir etwa auch mal so, als wir jung waren? Makaken turnen in den Bäumen und auf Dächern herum, sie fressen alles, klauen Kekse und Taschen, weshalb man die Zimmertüren zu machen soll, wenn sie zu frech werden, vertreibt Nazeer sie mit der Steinschleuder. Die schwarzen Languren mit weißen Gesichtern und katzenartige (Eich-) Hörnchen mit langem schwarzen Pelzschwanz bemerkt man nur, wenn die Äste schwingen und die tellergroßen Blätter rascheln.




Die Masseuse im Ayurveda-Salon, der sich wie alle hier Klinik nennt, schließt die Augen und faltet die Hände, dann schmiert sie mich von Kopf bis Fuß mit Ölen ein. Sie arbeitet hart, es fühlt sich angenehm an, gefällt mir trotzdem nicht. Draußen in der staubigen Hitze des Samstagnachmittags beschallt ein katholischer Agitator über Lautsprecher das ganze Viertel.Tempelgebimmel und Gospelgesänge mischen sich in eine frenetischen Kakophonie. Überhaupt gibts überall Kirchen, weiß, protzig, riesig, oft mit Schulen verbunden, aufdringlich an Kreuzungen, den besten Plätzen, von allen Hängen herab dominieren sie Land- und Ortschaften, Ebenezer, St. Mary, Joseph und Abel. Rund 20 % der Bevölkerung sind Christen, noch am letzten Marienschrein am Straßenrand gibt es einen Schlitz zum Münzeinwurf für die Erlösungssuchenden, die gut 25% Muslime machen sich morgens noch vor dem Sommenaufgang und zur Abenddämmerung mit ihrem auch nicht gerade zurückhaltenden, weit durch die Täler schallendem Rufgesang bemerkbar. In der Teebude bietet mir Laurens einen Sitzplatz im Hinterzimmer, dann zeigt er Fotos von sich im Schnee, seit zwei Tagen ist er wieder in Kumily, für zwei Monate besucht er seine Familie, Frau und drei kleine Kinder. Den Rest des Jahres fährt er Lastwagen über die Grenze zwischen Kroation und Serbien. Wie gehts Dir kann er auf Kroatisch. An der bröckelnden Natursteinmauer zum Periyar Tiger Reservat bügelt eine fast zahnlose Frau mit einem archaischen Kohleeisen die Wäsche der Gäste von den Hotels gegenüber. Wieso ist Armut eigentlich pittoresk? Schmieriggraues Abwasser sickert von den teuren Ressort ungeklärt in die riesigen Mikadobündel eines Bambushains. Die Engländer liessen hier 1895 einen Stausee anlegen. Ein Busshuttle führt drei Kilometer durch einen verwunschenen Laubwald bis zum Bootsanleger. Frei herumlaufen dürfen dort nur die Tiere, für Besucher gibt es die Möglichkeit zu geführten Wanderungen auf festen Strecken in kleinen Gruppen, wofür ich leider untauglich bin. Seit vor 15 Jahren eine Fähre kenterte und 45 Ausflügler ertranken, wird jetzt streng kontrolliert, dass jeder eine Schwimmweste umgeschnallt hat, die Plätze sind limitiert. Auf der gemütlichen 90 minütigen Tour sehen wir ein paar gutgetarnte Rehe und Kühe, vielleicht waren es auch Wasserbüffel, fern an den Ufern des Sees. Im vornehmen Eco-Ressort nah am Parkeingang wohnen die Gäste in strohgedeckten Rundhütten aus edlen Naturmaterialien. Sogar die Mülleimer sind aus Holz. Gärtner fegen und hegen unentwegt herum, die Pflanzen haben Namensschilder, am Pool sonnt sich eine verlorene Blondine. Eine offene, holzvertäfelte Naturkundebibliothek zeigt herrliche alte Stiche der lokalen Flora und Fauna. Mit dem Strahl der Arschdusche im Klo könnte man auch die Elefanten im Camp nebenan abspritzen. Warum ich das weiß? Alte Travellerweisheit: Bei akuter Notdurft das vornehmste Hotel in Sichtweite ansteuern und sich, unter soweit noch möglichem Lächeln, vom Pförtner den Weg zum Restaurant weisen lassen. Ich lasse kein leinernes Handtüchlein mitgehen.

Hinter den letztn Häusern grasen Kühe und Hühner picken in Misthaufen herum. Dahinter beginnt der Wald. Nach wenigen hundert Metern schickt mich eine Forstwärterin in Khakiuniform zurück, Betreten (ohne Führung) verboten. Ein paar Einheimische mit Holzbündel auf dem Kopf dürfen den Wald zum Glück nutzen. Eine Weile sitze ich unter einem Baum nicht fern der Kuhlichtung und höre den Vögeln zu, ein Gelber, ein Schwarzer mit orangenem Kragen, ein Eisblauer, einer mit langen Schwanzfedern. Und dann steht da zwischen zwei Bäumen ein Tier, ein Kalb, nein ein Rehbock, ein Sambar gar? Tiere gucken macht schon glücklich. Vor zwei Wochen, erzählt den britische Sonnyboy, sei ein Holzsammler dort von einem Tiger angefallen worden und verblutet. Darauf nehmen wir noch einen geteilten Schluck Rum.
Bitte beim Tiger aufpassen. Bei uns lassen wir gerade
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die Leoparden frei laufen. Auch gefährlich.
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der Leopard ist viel viel schlimmer
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Wieder sehr eindrückliche Beobachtungen! Ich habe mich nie mit der Arschdusche anfreunden können. da spitzt man sich, seine Klamotten und die halbe Toilette nass und dann? Kein Handtuch, kein Papier. Sehr eigenartig.
Ich hoffe, die Blondine hat sich wieder gefunden.
Warum ist Armut pittoresk? Mir ist auch schon aufgefallen, dass man im Urlaub Häuser, Zustände und Lebensumstände fotografiert, die man Zuhause niemals! akzeptieren würde. Eigenartig.
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dachte ich hätt schon geantwortet, aber hier weiß man nie so genau, der Kopf, das Internet? Ich woll sogar mal so ne Arschdusche bei mir zuhause einbauen lassen, aber der Klempner weigerte sich. Und das mit der pittoresken Armut, dem Exotismus des Hinterwäldlerischen, ist sicher noch weiter bedenkenswert.
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Wir haben eine solche Dusche bei uns zuhause, weil die SinnlosReisende die so praktisch fand. Da gibt es übrigens Modelle, da brauchst du keinen Klempner. Die kann man einfach an den Badewannen- oder Duschauslaufhahn aufschrauben und fertig. Wenn du willst, kann ich mal rausfinden, wo wir das bestellt haben.
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Tiger 🐅 in die Aschdusche stecken! Und abspritzen!
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Liebe Frau Professorin, ich fürchte, das ist jetzt nicht so ganz LGTBQD gerecht…
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Lieblingsworte zum Sonntag – old age should burn!
„Do not go gentle into that good night,
Old age should burn and rave at close of day;
Rage, rage against the dying of the light.“
Dylan Thomas
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Also wenn schon dann nennen Sie mich bitte Professor, ich hab’s nicht so mit dem in
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Nein, wir waren essentiell nicht klüger.
Aber wir hatten bessere Gründe zu glauben, daß unsere falschen Illusionen machbar wären. Heute kann man sich bloß ein Leben auf dem Mars vorstellen wollen.
Der Rum kommt noch immer nicht aus Kuba zu uns und die Amischlitten aus den 50ern und die Werkstätten, in denen man 60 Jahre alte Elektrokocher kaufen kann, werden ebendort von NurTouristen als -war das pittoreske ?- Hendi-Andenken nach Hause mitgenommen, wo man solche Stücke nichtmal auf Flohmärkten findet.
Rum zu/geteilt zu bekommen ist ja nicht schlecht; speziell wenns nix zu rauchen gibt – und ich mag mir gar nicht vorstellen, was der Blondling sagen wird können, wenn er in 30, 40 Jahren da steht, wo du jetzt bist.
Aber nach Indien fuhren manche von uns auch damals schon – mit den unterschiedlichsten Erwartungen.
Hab‘ weiter eine angenehme Zeit ;-!
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genau, aber ich glaub der Rum ist -übrigens gar kein schlechter – Fusel von hier.
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Die Inder sind einfallsreich. Die stellen ihren weißen Rum in Mangrovengegenden her, wo sie sich die bleichende Kraft des Seewassers zunutze machen und in den grünen schneiden sie die Spitzen von Bambusblättern, der ihn färbt; den kriegtma aber kaum beim Inder, weil es der Ersatz für Meßwein ist.
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