Das Vergangene ist nicht vergangen…?

Chidambaram

Wieviel Neumonde hat es gegeben, seit ich aufgehört habe sie zu zählen? Der Bus nach Kumbakonam fährt pünktlich um 8,45 los. Dort kennt der Tuktukfahrer mein gebuchtes Hotel. Hinter einer modernistischen Fassade aus rosaweißen Zickzackmustern beglückt mich das Hotel Metro mit einem Aufzug und wlan bis ins Zimmer mit Aussicht auf vor Hitze flimmernde Dächer. Alle 12 Jahre, zum Glück erst 2028 wieder, besuchen bis zu 4 Millionen Pilger die Stadt mit den 177 Tempeln, um sich im großen, mit Treppen, Mauern und Türmchen gesäumten quadratischen Teich von allen Sünden reinzuwaschen. Ich suche wie immer nur ein schattiges Plätzchen auf den Treppen zum hinsetzen. Ein junger Kerl, sie sehen alle jung aus, leiht sich meinen Kugelschreiber, dann schöpft er etwas vom grüngelben Wasser in eine Plastikflasche und will sie mir schenken. Nö. Er lässt es sich nicht nehmen, mich in den nahen Tempel zu führen, erklärt in seiner Sprache wortreich die Gottheiten, weist mich mit zwingenden Gesten an, Steine zu berühren, Hände zu falten, einen Geldschein auf den Teller des Priesters zu legen, Farbpulver entgegen zu nehmen, das ganze Brimborium, ich werde zusehends unwillig, nein ich bete nicht und erst recht keinen Pfosten an, ich gehe nicht in die Knie vor einem Lingam, dem symbolischen Pimmel irgendeines Gottes, doch der missionierende Irre ignoriert meine Ablehnung, ich gehe weg, auf die Strasse, gebe ihm Geld, nehme Reißaus, er folgt mir, die übelsten Indien-Geschichten (Theroux) fallen mir ein, zur Teebude, klare Worte, fester Schritt, tatsächlich verliert er sich im Getümmel, löst sich auf wie ein Trugbild. Die engen Gassen zwischen den ärmlichsten Behausungen sind blitzsauber gefegt. Der Müll liegt ordentlich ein paar Ecken weiter, auf einer Brache, am Ufer zu den Abwasserkanälen oder zum Fluss. Kumbakonam liegt zwischen zwei Flüssen, die fruchtbaren Ebenen zum Delta am Ozean gehören zu den Reisschüsseln des Landes. Das Wasser des Kaveri soll Unsterblichkeit verleihen. Laut einer Legende wurde nach der Zerstörung durch einen Tsunami auf göttlichen Rat der Sand einiger heiliger Orte und dieser Fluss-Nektar in einem Tongefäß (Khumba) gesammelt, Shiva schoß einen Pfeil darauf, das Gefäß zersprang, aus dem herumplatschenden Matsch und den Scherben formte er einen Lingam und darumherum entstand dann die Stadt. Das ist in etwa so verständlich für mich wie Ivan Illischs Herleitung einer antiken Stadtgründung, nach der irgendein Gott einen Ort für seine Contemplation auserwählte und daraufhin dort ein Tempel erbaut wurde. Aber ist Unsterblichkeit im Wiedergeburtskreislauf nicht eigentlich die Hölle? Oh incredible India. Die Hölle ist nämlich viel näher und profaner, sie befindet sich in einer dunklen Hotelbar. Da gibt es Bier zu sündhaften Preisen, dazu werden Schälchen mit Nüssen und vertrockneten Gurkenscheiben gereicht, der Raum ist schummrig und tiefgekühlt, fahlblau flimmert ein Musikvideo, fast unsichtbar versunken in kackbraunen Ledersesseln sitzen zwei Männer. Das Bier schmeckt scheußlich. Dafür ist Kumbakonam Kaffeetown, es duftet von Dutzenden Straßenständen her durch die stickigsten Abgasschwaden hindurch nach frischgerösteten Bohnen, im über 100 Jahre alten Lokal in der überdachten Marktgasse zum größten Tempel wird köstlichster Filterkaffee von alten Frauen in goldenen Metallbechern serviert. Frauen servieren ihn auch im mindestens ebenso alt aussehenden Restaurant, wo Männer in Reihen nebeneinander an langen Tischen sitzen und Reis mit Chutneys von Bananenblatttellern essen, und die Kasse in einem holzgetäfelten Verschlag hinter einer Glasscheibe ist. Überall bin ich als fremder Gast geduldet, Touristen sehe ich fast keine, nicht alle der 177 Tempel habe ich bei meinen tagelangen Stadtspaziergängen besucht, nicht jedes selige Lächeln der vielen, über 1000 Jahre alten Figuren aus Stein konnte ich erwidern. Kumbakonam ist sehr heiß, bei 34 Grad flüchte ich nach Chidambaram, vergleichsweise eine „Kleinstadt“ um eine große zentrale Tempelanlage. Die Magie dieses Ortes gründet darin, dass Shiva hier als Geist verkörpert ist, im Zentrum ist quasi das unsichtbare Nichts, statt eines Ersatzgötzen gleich das Immaterielle, die Leere ist nicht leer. Um so deutlicher wird (mir), dass allein der Glaube so vieler Pilger über Hunderte von Jahren den Ort mit seiner magischen Energie auflädt, der Glaube erzeugt das Heilige. Das ist wie mit meinen Fotos der Altäre, Tempel und Statuen: Ohne den Kontext der magisch aufgeladenen Atmosphäre ist darauf nur schön behauener Stein zu sehen. Was bleibt von der Erinnerung ohne die Gegenwart aller Sinneseindrücke, von Hitze, Atem, Raum, Himmel, dem Licht, von Staub, Geruch, Schweiß, Lärm, Gesang, Rauschen, Durst, Erschöpfung, Farben, Curry, Blumen? Ich weiß es nicht. Die Reise ist nicht zu Ende, ich fahre weiter nach Mamallapuram, lerne einen Freund kennen, es wird Vollmond und Tausende Pilger vom Volk der Irula treffen sich zur Feier am Meer. Das Staunen hört nicht auf. Wie kann ich es erhalten, lässt es sich mitnehmen? Längst bin ich schon wieder zurück in Berlin. In Indien steigt die Hitze über 40,45,48 Grad, in Delhi werden 52 gemessen, es wird gewählt, allein 33 Wahlhelfer sterben am vergangenen Sonntag sn Hitzschlag, der hindunationalistische Modi erreicht nicht mehr die absolute Mehrheit, in Tamil Nadu und Kerala, hat der Populist keine Chance, die „grösste Demokratie der Welt“ funktioniert. In Rameswaram sah ich das erstes Elektro-Tuktuk herumfahren.

Hijra vom Volk der Irula beim Masi Magam Fest am Strand von Mamallapuram
Beach Camp

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