Nicht wartezimmerfähig

 

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Sofas sind schon da

Ich war in einer großen Stadt. Der Vollmond schien, gelbe Züge und Bahnen fuhren die ganze Nacht. An den Umsteigebahnhöfen wird musiziert und es gibt Drogen. Ein schlaksiger Kerl um die Zwanzig singt „Forever Young“. Bedröhnte Alte tanzen beseelt um ihn herum, er sorgt sich ein wenig um seinen Gitarrenkoffer und die filigrane Anlage, auf der er mit dem Fuß die Rhythmusapp bedient. In einer Kirche ein paar Stationen entfernt wird eine Ausstellung mit Obdachlosenportraits eröffnet. Auf einem Podium erzählt die Fotografin Anekdoten, der ehemals Obdachlose berlinert, der Lokalpolitiker menschelt, der Sozialpraktiker differenziert. In Berlin gibt es keine Obdachlosenstatistik, die sind ja auch so schwierig zu zählen, haha, fragen Sie doch uns, sagt der Leiter des Trinkerwohnheims in der Nostizstzraße. Bei 50 Prozent der Leute sei der Krankenversicherungsschutz relativ leicht reaktivierbar, das Problem, neuer Begriff: „nicht wartezimmerfähig“. Was er auf der Straße am meisten vermisst habe, wird der  „Gerettete“ gefragt: „Nüscht!“ Jetzt arrangiere er sich langsam mit einer Wohnung, zwanzig Jahre, legt er nach, habe er super in der Charité gewohnt, den kurzen Dietrich immer dabei, mehr verrate er nicht,“Ehrenkodex der Straße“. Ein Rentner in weißem Freizeitanzug findet, man müsste auch mal was gegen die Roma-Gangster tun. Stellt sich danach jovial zu den bärtigen Rotweingesellen an den Tisch, tolerant sind die. Ein Trio spielt Space-Musik, leg ich mich echt auf den Holzfußboden vor der Orgel lang hin. Bin ich die Einzige, die sich verhält wie ein Penner?

Ausstellung: Kein Raum, Fotografien von Deborah Ruppert, Heilig-Kreuz-Kirche, Zossenerstr. 6 

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5 Antworten zu Nicht wartezimmerfähig

  1. Geschichten und Meer schreibt:

    Heilig-Kreuz-Passion in Kreuzberg? Da würde ich mich auch glatt auf den Fußboden legen.

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  2. eimaeckel schreibt:

    Schönes, lakonisches Stimmungsbild aus der Hauptstadt (Ich hab doch tatsächlich gerätselt, in welcher Stadt gelbe Züge fahren ;-)) In der Mitte deines Textes komm ich nicht mehr mit. Mit dem Krankenversicherungsschutz. Worum geht’s da?

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  3. juergen61 schreibt:

    Sehr guter Bericht, könnte auch für Hamburg zutreffen (nur gelbe Züge haben wir keine, dafür ist die Stadt jeden Winter aufs Neue überrascht wieviele Obdachlose es hier gibt…) Grüsse von Jürgen

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