Prométheus? Ja, der auch noch. Der sagenhafte Feuerbringer soll hier im Kaukasus angeschmiedet gewesen sein. Am Horizont gleißen schneebedeckte Gipfel des Gebirges, das Georgien von Russland trennt. Im Park vor dem Stalinmuseum von Gori sitzen ein paar Veteranen auf Bänken, einer hat all seine Orden an die abgetragene Anzugjacke geheftet. Auf den Treppen der Säulenhalle des neoklassizistischen Kastens bietet ein Rentner in einem Pappkarton Streichholzschachteln feil, die mit fotokopierten Stalinbildchen beklebt sind. Frauen mit beschädigtem Lächeln klettern die Stiegen des gepanzerten Eisenbahnwaggons hinauf, in dessen Einbaumöbeln aus Zarenzeit der flugängstliche Stalin herumreiste.
Eine Museumsmitarbeiterin auf gefährlich hohen Absätzen schließt für einen kurzen Einblick die Tür des Geburtshauses des Schustersohnes auf. Das ganze baufällige Lehmhäuschen wird von einer pavillonartigen Ummantelung geschützt. Um die zentrale Stellung des Wallfahrtsorts auch topografisch zu markieren, wurde die halbe Stadt um die armselige Behausung herumgruppiert.
Ein Supermarkt wirbt mit einem riesigen bunten Stalin-Poster, daneben eine Sexbar, es ist, als befänden wir uns in einer Filmkulisse. Aber alles ist ernst gemeint. Im Museumsshop gibt es Stalinbüsten in vergoldetem Gips, die freundlichen Museumsdirektorin schenkt jedem von unser deutschen Journalistendelegation einen Stalinwimpel aus Fabrikbrokat und ein Heftchen mit Gedichten des berühmtesten Sohns dieser Stadt. Was für uns ein schräges Souvenir darstellt, ist von ihr ganz ohne Ironie gemeint.
Und der Terror? Die Millionen Toten, die auf Stalins Kosten gehen? Die Opfer der stalinistischen Säuberungen von 1937 an, auch gerade unter den Georgiern, die bis heute die Wiederkehr der Russen fürchten müssen? Der uns begleitende Historiker Lasha Bakradze, Direktor des Literaturmuseums in Tiflis, arbeitet seit Jahren an einem Konzept nach dem Vorbild der Berliner „Topografie des Terrors“. Er ist schon dafür, das seit dem 100. Geburtstag Stalins (der war am 21. 12. 1879, Danke lieber Leser!) unveränderte, also selbst historisch gewordene „Museum eines Museums“ zu erhalten. Aber dass es bisher noch nicht einmal eine historische Kommentierung des ungebrochenen Personenkultes gibt, das ist schier unglaublich.
Auf dem Rückweg nach Tiflis weist Lasha uns auf Flüchtlingslager in den grünen Ebenen hin: bescheidene Neubau-Siedlungen für Tausende nun landlos vor sich hin darbende georgische Bauern aus Abchasien und Südossetien, wo die russischen Besatzer die Grenzen schleichend, oftmals über Nacht, verschieben. Das ist nicht Geschichte, das ist die Gegenwart.
Die Probleme der georgischen Kinderbuchillustratoren kommen uns nach dem Ausflug in die georgische Psychopathologie zwischen Stalinismus und drohendem Putinismus vergleichsweise läppisch vor. Ja, bei einer Bevölkerung von etwa 3,7 Millionen Einwohnern (mindestens eine Million sind in den vergangenen 25 Jahren ausgewandert) mit einer eigenen Sprache und einem eigenen Alphabet, dürfte ein lokaler „Kinderbuchmarkt“ illusorisch sein. Deshalb soll es die ganze Welt sein. „Number One“ international könnten die georgischen Buchillustratoren werden, das wünscht sich der väterliche Otar Karalashvili. Dazu hat der Deutsch sprechende Bartträger ein gutes Dutzend schweigsamer, aber äußerst aparter Künstlerinnen und Designerinnen mit blauen Haaren um sich geschart. Als mutmaßliche Einmann-NGO hat er sie ausgebildet und mit ihnen und einer deftigen Förderung des Goethe Instituts, zunächst 100 000, dann 200 000 Euro, eine kleine Buchmesse ins Leben gerufen. Unglücklicherweise ist in diesem Jahr die Unterstützung aus Deutschland ausgeblieben. Warum? Geht die nun eher in die Ukraine? Oder ist das ein politisches Anzeichen für etwas, das wir noch nicht wissen? In Tiflis begrüße gerade blaue EU-Fahnen den Wegfall der Visapflicht.