Der alte Soldat hat vergessen, wie das Lied geht. Scheiden, meiden, singt er, dazwischen Pausen, in denen er wartet, dass sich die Leerstellen füllen. Aber die Verbindung ist unterbrochen, die Synapsen blockiert. Meine Schwester souffliert, für ihn unhörbar, „tut weh“. Allein weil der Gedanke im Raum ist, fällt es auch ihm wieder ein: Scheiden tut weh. Und dann auch noch meine Lieblingsstelle. „Heimat, Deine Sterne“. Der giftig orangefarbene Multivitaminsaft breitet sich als See auf dem Wachstischtuch aus, ich hole einen Lappen., die 96-Jährige, die sich immer an meinem Gestapo-Mantel von Humana stört, muss aufs Klo. Warum hilft mir denn keiner, hier ist ja gar niemand, wiederholt sie ungehalten. Die anderen sind verstummt. Bis auf eine. Sie singt unentwegt „Wieder wieder wieder“, eine fast ins Abstrakte verkürzte Erinnerung an die Liedzeile „Alle Tage wieder“. Sprung in der Schüssel nannte man das früher respektlos.
Um unsere Mutter kurz im Altersheim zu besuchen, fahre ich zwei Tage etwa acht Stunden lang mit dem Zug. Die beste Zeit zum Lesen im Bordbistro. Die letzte Strecke mit dem Bus. Ein etwa 50 jähriger Mann mit Schiebermütze, keine „basecap“, sondern die altmodische Funktionsmütze, setzt sich zu mir. Er sagt, mein Mantel sei schick. Ich tu, als ob ich ihn nicht gehört hätte und stiere in die schwarze Nacht hinter der verregneten Scheibe. Wobei ich ihn in der Reflexion im Blick habe. Was er weiß. Er wird von Lachanfällen geschüttelt, die er mit einem „Scheiße, scheiße, scheiße“ zu unterdrücken sucht. Er entschuldigt sich, er sei völlig bekifft. Und käme vom Krankenhaus, wo seine schwerkranke Frau operiert wurde. In seinem Rucksack hat er eine Taschenlampe. Um nach der Endhaltestelle des Buses noch den Fußweg auf den Talacker zu finden. Auf dem Rückweg sitzt mir im Bordbistro ein Junkie gegenüber. Wir erkennen uns sofort. Kein Wort, das Meiden des Blickwechsels ist schon zu viel.
PS: sieht schon wieder alles anders aus hier, wollte doch noch favoriten nachliefern:
https://leselebenszeichen.wordpress.com