Nennen wirs Fortschritt

gefakte Authentizitäten auf Kreditkarte

gefakte Authentizitäten auf Kreditkarte

Noch ein Versuch, mich als Sportreporter zu profilieren. Aber gegen das latente Bauchgrummeln (Bohnen?) stärke ich mich davor noch bei einem Medizinmann mit einem braunen Gebräu in einem Plastikbecherchen. Er hat mit einem Drahtgestell – selbstgebastelt, ansonsten wie bei Bob Dylan die Mundharmonika- ein Mikro vor seinem gegerbten Gesicht und den Perlengehängen befestigt und preist lautstark die Vorzüge seiner Naturheilmittel an. Er und sein Haufen an Bastkörben voller geraspelter Baumrinden, getrockneter Kräuter und gehobelter Holzstückchen ist dicht umringt von giggelnden Leuten in Federntrachten. Im Digitalen Zelt nebenan daddeln aufgebrezelte Indiokids an Computern und zeigen ihren Vätern, wie Facebook geht. Im Zelt der Weisheit herrscht nahezu Sturmwind, denn hier stehen die größten Ventilatoren der Welt. Als ich mich hier auf einem duftenden Sisalsofa niederlasse, tritt plötzlich die einzige indigene Minderheit Nordeuropas auf: Die Samen aus Finnland schwitzen in ihren dicken Wadenstulpen, handgenähten Schnabelschuhen und harlekinartigen Kostümen. Statt sich mit den martialisch tättowierten und grimassierenden Wuchtbrummen der Maori oder einer der anderen 25 indigenen Volksgruppen im Stadion beim Tauziehen oder Sandschlacht-Polo zu messen, haben sie eine klare Botschaft mitgebracht: Moderne killt Tradition. Sie fahren inzwischen mit Schneemobilen zur Jagd und nutzen GPS und Whats App, aber die Beschleunigung der technischen Kommunikationsmedien, nennen wir es Fortschritt, lässt die Traditionen der alten Lebenskultur verkümmern und aussterben. Etwas ähnliches sagt ein indigener Filmemacher, der seit 25 Jahren die Tänze und Rituale verschiedener Dörfer dokumentiert: Anfangs habe er nicht gewusst, das er damit etwas festhalte, das im Begriff sei, zu sterben und vergessen zu werden.
Inzwischen trabt eine Männergruppe mit Vorsänger in einem Stampftanz durch die Arena. Kleine Kinder sind auch dabei. Haben wir schon erwähnt, dass alle Brasilianer ihre Kinder lieben? Das rhythmische Stampfen, gerne mit Rasseln und Klappern an den Fussgelenken kommt von der Tradition, bei Einbruch der Dunkelheit das Dorf zu umkreisen, um mit dem Geschepper Schlangen und anderes Getier zu verscheuchen und die Heimstatt vor sonstigen üblen Eindringlingen der Nachtwelt zu beschützen. Frauen schütteln ihre mit Kernen gefüllten Bambusstöcke und singen eine monotone Melodie. Dann bilden sie alle einen Kreis und halten sich an den Händen. Linksherum und Rechtsherum und alle in die Mitte.
Sport ist das nicht. Oder doch, jetzt wird plötzlich Federball gespielt! Alle springen und tollen wie irre herum, fallen überreinander, Sand wirbelt auf, das Publikum gröhlt. Nach einer knappen Minute Ballhascherei zieht das gefiederte Völkchen in ordentlicher Formation unter Singen und Rasseln wieder ab. So geht das Ritual vom Zusammenhalt.
Danach laufen starke Frauen in roten Sport-BHs und kurzen Perlenschnurröckchen ein. Sie trragen einen mannsgroßen Baumstamm, nein, die nur die erste, die voran rennende Frau, wie schnell sie ist, schaut sie euch an, was für ein Prachtweib, trägt den Stamm auf ihren Schultern. Sie rennen in Zweiergruppen zur Ziellinie, dann übernimmt eine andere im fliegenden Wechsel, oh je, da ist eine zusammengebrochen, die anderne helfen, um den Pfosten herum und zürück. Geschafft! Beifall!! Jubel!!!
Was uns wie die idiotischste weibliche Kraftsportart vorkommt, hat einen ernsten rituellen Ursprung: Wenn jemand stirbt, werden zwei Bäume gefällt, die Größe richtet sich nach dem Alter des Verstorbenen. Dann werden die beiden Stämme eine Nacht lang vom Dorfschamanen „angeguckt“bis er weiß, in welchen sich der Tote zurückgezogen hat. Ein Jahr lang, wie unser Trauerjahr, gilt der geschälte und mit bedeutsamen Zeichen markierte Stamm dann als eine Art Inkarnation des Toten. Und irgendwie wird er dabei auch mal rennend von Dorf zu Dorf getragen. Dieses Ritual für einen Verstorbenen wird nur von fünf brasilianischen indigenen Völkern praktiziert. Wie wurde das Todesritual zur lustigen Sportdisziplin? Wie funktioniert die Versportung von Kultur und Ritualen? Vielleicht verstehn die Samen oder die Maori das ja besser.

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